Kommentar
: Luxusmoral

■ Die ICE-Katastrophe von Eschede taugt nicht für Bußbotschaften

Es war absehbar, und so kam es auch: Die ICE-Katastrophe von Eschede hat einen Fortschrittspessimismus mobilisiert, der schon immer wußte, daß es nicht gutgehen kann. Nun müssen wir uns alle fragen, ob wir nicht Anhänger tödlichen Tempowahns sind. Kaum eine Zeitung, kaum ein TV-Sender, in dem man nicht erfährt, daß Schnelligkeit eine Droge unserer Zeit ist, und in der bedenkenschwer erörtert wird, ob ein paar Minuten Zeitgewinn das Risiko lohnt.

Dieser Reflex ist verständlich. Einen Tod, der nichts als sinnlos ist, können wir kaum ertragen. Der Tod soll wenigstens eine Botschaft haben, die wir in Zukunft beherzigen können. Kein Opfer ohne Sinn. Das beruhigt unser Gewissen; es befreit von unserer Hilfosigkeit in Anbetracht des Furchtbaren. Daß die Bahn die ICE einen Tag nur mit 160 Stundenkilometern fahren ließ, war ein Zugeständnis an unser Bedürfnis, daß etwas getan wird, keine rationale Vorsichtsmaßnahme.

Der Appell gegen die Tempogesellschaft ist so bigott wie das ganze kulturkritische Gerede von Entschleunigung. Wir rasen schneller als je zuvor von einem Ort zum anderen und erledigen dabei, per Handy und Computer, auch noch anderes. Zudem ist die Schnelligkeit demokratisiert worden. ICE-Reisen und Interkontinentalflüge sind Allgemeingut geworden, so wie der Champagner, den es heutzutage bei Aldi um die Ecke gibt. Diese neuen Freiheiten waren Versprechen – doch das Glück läßt auf sich warten. Denn obwohl alles schneller geht, haben wir, anscheinend paradoxerweise, immer weniger Zeit. Beschleunigung und Verdichtung bringen nicht Zeitgewinn und Muße, sondern immer mehr Hektik.

So sehnt sich der moderne Zeitgenosse nach der Ära vor dem Tempo-Sündenfall. Diese Sehnsucht tritt gelegentlich heftig in Erscheinung, derzeit als Bußbotschaft an eine tempovernarrte Welt, die kein Opfer scheut. Doch gleichzeitig ist der Wille zur Langsamkeit stets unverbindlich. Denn wenn der Bummelzug wirklich mal mit vierzig über die Gleise rumpelt, dann weicht das Entschleunigungpathos flugs jener modernen Nervosität, der es nie rasch genug gehen kann. Das Lob der Langsamkeit ist eine Luxusmoral, die wir uns nur leisten, solange es schnell geht. Ist es ein Zufall, daß Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ zur Lieblingslektüre in den ICE gehört? Stefan Reinecke