Strampeln für eine radmobile Innenstadt

■ 20.000 RadlerInnen demonstrierten gestern bei einer Sternfahrt für eine Wende in der Verkehrspolitik und genossen die autofreie City

„Das Autobahnfahren müssen wir noch üben“, meinte nachdenklich Stefan Krappweis. Zusammen mit Hunderten GesinnungsgenossInnen stand der Radler gestern mittag in Nikolassee unter brütender Sonne vor der Auffahrt zur Avus – im Stau. Allzu viele Teilnehmer der „Fahrradsternfahrt“ vom Fahrradclub ADFC und Grüner Liga wollten gleichzeitig das beste Stück der Berliner Autofahrer in Besitz nehmen.

Sobald sich die Masse dann aber an das Radeln auf der Autobahn gewöhnt hatte, war es ähnlich wie im richtigen Verkehrsleben: die langsamen Sonntagsfahrer rechts, die schnellen Biker auf der Überholspur. Auf der Standspur halfen die „gelben Engel“ vom ADFC bei der Pannenhilfe. Die Fahrrad-Anhänger mit Kindern hielten sich an der Seite, ganz links sauste der eine oder andere Geisterfahrer. Ab und zu wurde der Verkehr zähfließend und staute sich. Statt auf Aufklebern am Heck benutzten die Radler T-Shirts oder Schilder zur Meinungsäußerung: „Ein Auto weniger“, „Bleifrei normal – Autofrei super“ oder nur: „Merkel raus!“

20.000 FahrradfahrerInnen hatte es auf die Straße getrieben – „trotz des heißesten Wochenendes dieses Jahres, das eine Fahrradbewegung ins Umland auslöste“, wie ADFC-Sprecher Benno Koch meinte. Auf 13 Routen waren sie zum großen Stern im Tiergarten unterwegs und genossen sichtlich die Erfahrung, Teile der Stadt für den pedalgetriebenen, umweltfreundlichen und leisen Verkehr zu erobern. Die Zusammenarbeit mit der Polizei sei entspannt, meinte Koch. Allerdings wurden die Beamten dann doch nervös, als sie das traditionelle Umkreisen der Siegessäule verhindern und die Sperrung der Wilhelmstraße für Fahrräder durchsetzen wollten. „Die Demoroute geht da lang!“ hieß es barsch als Grund für die Sperrung. „Uns versperren sie den Weg, aber für das Filmfest blockieren sie das Brandenburger Tor für zehn Tage“, monierte Teilnehmerin Helene Schruff.

Sternfahrt und der abschließende Ökomarkt am Brandenburger Tor sollten nicht nur ein traditionelles Happening sein. ADFC und Grüne Liga wollen eine andere Politik: „Das Veloroutennetz muß umgesetzt und ein eigener Haushaltstitel für Fahrradverkehr eingerichtet werden“, so Benno Koch – die gleichen Forderungen wie im vergangenen Jahr.

Die Ungeduld der RadlerInnen wächst offenbar. Am Rand der Sternfahrt wurden Flugblätter verteilt, die zur „Critical Mass“-Veranstaltung am 26. Juni um 16 Uhr am Brandenburger Tor aufrufen. Der Gedanke: Möglichst viele Radfahrer, die konzentriert in der Rush-hour radfahren. Präsenz zeigen, an die Verkehrsregeln halten und dadurch den Verkehr stellenweise stillegen, heißt die Devise der kritischen Masse – nicht einmal im Jahr, sondern jeden letzten Freitag im Monat. Bernhard Pötter