Pornographen und Provinzpolitiker

Die DDR ist zweifellos das witzigste Land der Welt, zumindest seit 1989. Immer mehr ostdeutsche Autoren finden dort ihr Thema und tragen damit zum anschwellenden Textstrom „Neue DDR-Literatur“ bei. Das ist kein Rassenstandpunkt, sondern ein Klassenstandpunkt  ■ Von Helmut Höge

Die rumpelartige Übernahme und listige Zerschlagung der „ollen“ Russenzone brockte uns das Phänomen „Neue DDR-Literatur“ ein. Es begann im Westen der Republik – mit den beiden Großschriftstellern Hochhuth und Grass sowie mit der staatlich-geförderten „Transformationsforschung“ –, und setzte sich dann, bis zur völligen Tendenziosität, mit „Treuhand-Analysen“ aus den Journalisten-Schulen (von Springer bis Gruner & Jahr) fort.

Zur selben Zeit fanden immer mehr Ostler ihr Thema in situ: Peter Wawerzinek, Klaus Schlesinger, Landolf Scherzer, Anett Gröschner oder Christoph Dieckmann. Daneben mehrten sich ansehnliche Reportagen-Sammlungen. Der PDS-nahe „Spotless-Verlag“ bringt inzwischen fast jeden Monat dünne DDR-Berichte – mit neuen Privatisierungsskandalen und Titeln wie „Ossiland ist abgebrannt“ – auf den Markt. Dazu zirkulieren noch jede Menge Detailanalysen im Samisdat (aus Selbstverlagen). Das meiste gelangt nicht über die wenigen kleinen PDS- Buchläden hinaus.

Schon während der Wende 89/90 wurde in Westberlin geweissagt: „Die DDR ist das witzigste Land der Welt, sie wissen es nur noch nicht!“ Jetzt schwanken die meisten DDR-Autoren zwischen einer Ironie, die sich nahezu grundlos erhebt, und einem Humor, der sich fallen läßt, bis er auf das Schwarze unter dem Fingernagel stößt. Zu den ersten Humoria zählt die Dorf-Pilotstudie von Stefan Schwarz: „Der Dalai Leimer und die 7 Glorreichen von Wendelow“. Zur zahlenmäßig überwiegenden ironischen Literatur zähle ich „Peanuts aus Halle“ von Peter Müller und Wolfgang Sabath. In dieser „Realsatire zur Vereinigungskriminalität“ geht es um eine Hallenser Sparkassenfiliale, deren altgediente Sachbearbeiterin Kredite in Höhe von 700 Millionen Mark an eine Gruppe westdeutscher Betrüger vergab, die sich in der aufgelösten LPG-Verwaltungsbaracke von Teuschenthal einquartiert und mit Schwindelfirmen sowie Bauprojekten Arbeitsplätze en masse versprochen hatte.

Sehr schön – quasi von unten – ist auch „Goldfieber. Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Waltersdorf“. Die DDR-Gewerkschafts-Journalisten Ingolf Kern und Andreas Simon zeichnen hier die kurze, aber heftige Geschichte des Rieseneinkaufscenters an einer Autobahnabfahrt bei Berlin nach. Anders als in Halle verschob hier der jungdynamische Westberliner „Möbel- Höffner“-Chef Millionen in den märkischen Sand bei Waltersdorf.

Weitaus lehrreicher ist jedoch die Standortanalyse „Der Oscar Wilde von Schwerin“ – eine „Chronik der Pornoaffäre von Sebastian Bleisch“. In dieser gründlichen „Recherche“ des DDR-Drehbuchautors Frank Goyke und des Fernsehkritikers Andreas Schmidt geht es um den preigekrönten Schweriner Suhrkamp-Autor Norbert Bleisch (39), der 1997 ins Gefängnis kam, weil er eine „Unzahl“ künstlerisch wertvoller Pornofilme mit insgesamt 160 minderjährigen Schülern aus Schwerin gedreht hatte, an denen ein westdeutscher Schwulen-Software-Dealer ein Vermögen verdiente.

Dieser mecklenburgisch-vorpommerische Hauptstadt-Skandal ist noch immer nicht ausgestanden. Zuerst mußten Goyke und Schmidt einige Sätze in ihrer „Chronik“ auf Verlangen eines gegen den Pornofilmer besonders engagiert aufgetretenen Lokaljournalisten einschwärzen. Dann wurde eine Lesung in Schwerin mit Bleisch, der inzwischen im Knast ebenfalls ein Buch über sein filmisches Tun – mit dem Titel „Porno“ – geschrieben hatte, von der dortigen SPD und CDU „unterbunden“. Selbst eine Bleisch-„kritische“ Lesung aus dem „Oscar Wilde von Schwerin“ (von Goyke und Schmidt) wurde von der Kultusministerin als „geschmacklos und widerwärtig“ bezeichnet.

Im vergangenen Jahr mußte ein Staatssekretär aus diesem Ministerium gehen, weil man ein altes homosexuelles Techtelmechtel im Suff aus seiner Bundeswehrzeit ausgegraben hatte. Der Besserwessi war für Peenemünde – als Korrespondenzstandort der Hannoveraner Expo – verantwortlich gewesen. Als sein Museumsleiter vor Ort fungierte ein Kunstwissenschaftler und Kriegsdienstverweigerer, ebenfalls aus dem Westen. Deren Usedomer Aufklärungsprojekt war eine Absage an die Daimler-Benz-Dasa, die dafür ein supertolles „Space-Park“-Konzept entwickelt hatte, das nun in Bremen und mit der Expo zusammen realisiert wird – Peenemünde ist nicht einmal mehr als „Korrespondenzstandort“ im Gespräch.

Schwerin setzen seine Schwulen scheinbar schwer zu. Die beiden „Chronik“-Autoren konnten zudem überzeugend nachweisen, daß die zum Pornofilm verführten Jugendlichen mitnichten in Norbert Bleisch den fürchterlichen Kinderschänder sehen, sondern eher den einzigen Schweriner Erwachsenen, der ihnen gegenüber „sozial und solidarisch“ war – und ist. Vollends ironisch wurde der „Fall“ dann mit einer „Stellungnahme“ des „Porno“-Filmers und -Autors Bleisch selbst. Via dpa ließ er verlauten: Das Denken der Schweriner CDU stehe in Stasi-Tradition, und wer das Porno-Problem „ausblendet, duldet stillschweigend den weiteren Mißbrauch Jugendlicher. Man muß darüber sprechen, warum sie so leicht den Verlockungen des Geldes erliegen.“ Das ist mit einem einzigen Lesungs-Talk – zumal in Schwerin – kaum zu schaffen. Aber schon kommt der nächste „Bericht aus Schwerin“ – von Wilhelm Boeger: „Der Leihbeamte“. Der Autor, ein Jurist und Kultusministerialbeamter, wurde eher mit brennender Buschzulage angelockt. Das aber macht den aufklärerischen Wert dieser West- Biographie aus: Es muß immer irgendwie weitergehen! Die jeweiligen „Projekte“ sind im Grunde nur alberne Mittel zum Zweck. Eigentlich sollte es nur ein kurzfristiges Engagement sein, um der Landesregierung für den dortigen KdF- Erholungsort Prora ein Berufsfortbildungs-Projektpapier zu entwerfen. Diese „Vorlage“ wurde jedoch verschleppt, hintertrieben, vermurkst und – vergessen. Der Arbeitsvertrag dafür aber verlängert. Nach jahre- und kapitellangen Abtreibungen bis hin zu Ausstellungsprojekten in Westberlin rief mich neulich der Autor persönlich aus Prora an und lud mich zu einer Lesung ein: Er sei dort jetzt für die gesamte Kultur zuständig oder so. Ein aktiver Mensch. Es würde mich nicht wundern, wenn ich demnächst erführe, daß ihm nun schon die gesamte Anlage mit einem Fassungsvermögen von 6 Millionen Touristen gehört. Denn das Motto von „Der Leihbeamte“ lautet: „So wie sich der kleine Max die Weltgeschichte vorstellt, genauso ist sie!“ Das ist auch mein Lieblingsmotto.

Es könnte auch Otto Ulrichs „Der Staatsbesuch“ vorangestellt sein. Der ehemalige Bonner Referatsleiter und Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes befaßt sich darin mit den Protestdemonstrationen in Bonn, die seit der Wende und der Massenarbeitslosigkeit reisefreudiger Ostler immer häufiger dort friedlich im Weichbild versickern. Ulrichs Erzählung gipfelt in der Sitzung eines utopischen Bonner Zukunftsministeriums, die von einigen geschminkten Gauklern gestört wird: „Oktaven einer neuen Politik“. Mich erinnerte das an Kinderzeichnungen auf Schulbänken.

Mut zur Öffentlichkeit haben diese westdeutschen Verwaltungsbeamten. Obwohl es immer öfter vorkommt, daß so einer bei seinem Buch – vor allem, wenn es um die DDR geht – schamhaft seine Herkunft, Ost oder West?, verschleiert. So geschehen beim sachsen- anhaltinischen Regierungssprecher Dietrich Pawlowski, dessen „Affären“-Beschreibung „Wie im Westen so auf Erden – Sachsen- Anhalts verkorkste Wiedergeburt“ heißt. Auch in dieser Expo- Korrespondenzregion geht es ziemlich bunt zu. Nicht umsonst kalauert der Autor gleich mehrmals: „Über Sachsen-Anhalt lacht die Sonne, über Magdeburg die ganze Welt“. Pawlowski veröffentlichte seine Studie übrigens noch vor der aufrüttelnden Landtagswahl. Spätestens seit Puschkin wissen wir, daß aktive Staatsdienstleister zu echter Ironie gar nicht fähig sind – im Gegenteil, dennoch kann dieser Autor mit so manchem Fundstück Freude machen: In Quedlinburg bot die Kreisvolkshochschule 1994 einen Abendkurs „Umgang mit Wessis“ an. Auch seine „handverlesene Oldenburg- Mafia“ – die niedersächsischen „Hofschranzen“ in Magdeburg – haben mich überzeugt. Nur daß er, um nicht als Linker zu gelten, immer mal wieder gerne unqualifiziert auf Stasi und Hasi im Osten herumhakt, ermüdet auf Dauer.

Trotzdem zählt auch und gerade diese mehr oder weniger mißratene Leihbeamten-Literatur zum anschwellenden Textstrom: „Schreibeland DDR“! Das ist nämlich kein Rassen-, sondern eine Klassenstandpunkt. Und all diese schreibenden Leihbeamte, die das erfuhren, aber nicht zum Ausdruck bringen (durften), bestätigen diesen Befund noch einmal.

Peter Müller, Wolfgang Sabath: „Peanuts aus Halle“. Elefanten Press, Berlin 1998, 155 S., 19,90 DM

Frank Goyke, Andreas Schmidt: „Der Oscar Wilde von Schwerin“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1998, 320 S., 29,80 DM

Wilhelm Boeger: „Der Leihbeamte“. Mitteldeutscher Verlag, Halle 1998, 240 S., 29,80 DM

Otto Ulrich: „Der Staatsbesuch“. Fouqué – Presse für neue Literatur. 180 S., 22,80 DM

Dietrich Pawlowski: „Wie im Westen so auf Erden“. Berlin Verlag Arno Spitz, 1997, 259 S., 38 DM