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: „I believe in yesterday“

■ Von Kleinstadthelden und anderen guten Bekannten: Weil jeder ein Gestern hat, lesen sich viele Erinnerungsbücher, als würde die eigene Biographie in einem fremden O-Ton nacherzählt

„Yesterday, all my troubles seemed so far away...“ Einer der bekanntesten Songs der Beatles, sentimental, aber nicht wirklich kitschig; sozusagen die Hymne des nostalgischen Gefühls. So ein Gestern hat jeder. Nicht der eben vergangene Tag ist gemeint, sondern jene unwiederbringlichen Vergangenheiten, die, aus welchen Gründen auch immer, in der Erinnerung haften bleiben und zu Kraftfeldern werden, aus denen sich auch die eigene Gegenwart speist.

Die Kindheit ist eines dieser Kraftfelder – und eines der größten literarischen Themen überhaupt. Walter Kempowskis „Weltschmerz – Kinderszenen fast zu ernst“ skizziert in lockerer Folge aus sehr präzisen Erinnerungssplittern eine Kindheit in den 30er Jahren. Der Titel bezieht sich auf Robert Schumanns Klavierstück „Kinderszenen fast zu ernst“, eine Art Yesterday der deutschen Klassik. Und Kempowskis Prosa gewinnt in diesem Text eine Melodiosität, die deshalb bemerkenswert ist, weil sie bei allem Sentiment nie trivial abgleitet.

Erinnern kann, wenn der richtige Autor die Sache anpackt, ungeheuer komisch sein. Der richtige Autor ist in diesem Fall Frank Schulz, dessen Roman „Kolks blonde Bräute“ es in einer kleinen, aber kundigen Szene inzwischen zu „Kultstatus“ gebracht hat. An einem einsamen Silvesterabend erinnert sich einer an die feucht-fröhlichen Tage und Nächte seiner aktiven Trinkerzeit und an die kuriosen Ereignisse um den Postboten Kolk und dessen denkwürdiges erotisches Abenteuer.

Um erotische Abenteuer beziehungsweise um eingebildete erotische Abenteuer geht es auch in Julian Barnes' Roman „Vor meiner Zeit“. Der Ehemann einer gescheiterten Schauspielerin phantasiert sich deren Vorleben zusammen und gerät dabei immer stärker in den Sog einer retrospektiven Eifersucht. Der Witz des Buches besteht vor allem darin, daß offenbleibt, ob das Gestern der schönen Gattin so war, wie der Second-hand- Othello glaubt, oder nicht doch ganz harmlos.

„Kleinstadthelden“ ist ein autobiographischer Roman von Andreas Mand, der schon oft mit ganz ausgezeichneten Büchern aufgefallen ist, die sich alle mit den generationstypischen Erfahrungen der heute um die Vierzigjährigen auseinandersetzen. Mand scheint mir substantieller an die Bewußtseinslage der Post-68er heranzukommen als beispielsweise Matthias Politycki mit seinem vielgelobten „Weiberroman“. Und das liegt vielleicht daran, daß Mand einen völlig unprätentiösen, kunstvoll unliterarischen Stil entwickelt hat, der, wie im Fall von „Kleinstadthelden“, den Zeitgeist der späten 70er und frühen 80er Jahre gewissermaßen im O-Ton einfängt.

„Ich frage mich nur“, fragte sich ein Kritiker, „warum noch kein deutscher Autor solch einen hervorragenden Roman über diese Zeit vorgelegt hat.“ Der Roman heißt „Yesterday“, der Autor Lars Saabye Christensen, er kommt aus Norwegen, und die Geschichte spielt zwischen 1965 und 1972.

Die konzeptionelle Idee dieses eigentlich recht traditionell daherkommenden Entwicklungsromans über eine Clique von Jugendlichen besteht darin, alle Entwicklungsschritte und damit Kapitel mit Titeln von Beatles-Songs zu überschreiben. Man muß aber kein ausgesprochener Beatles-Fan sein, um Spaß an der Lektüre zu haben. Schließlich haben wir ja auch alle unser persönliches Yesterday – selbst wenn wir den Song furchtbar finden. Klaus Modick

Walter Kempowski: „Weltschmerz – Kinderszenen fast zu ernst“. btb

Julian Barnes: „Vor meiner Zeit“. Roman. rororo

Frank Schulz: „Kolks blonde Bräute“. Roman. Heyne Tb

Lars Saabye Christensen: „Yesterday“. Roman. btb

Andreas Mand: „Kleinstadthelden“. Roman. Ullstein Tb