Die Rückfahrtickets liegen bereit

Israels zweiter Teilrückzug aus den besetzten palästinensischen Gebieten wird schon für die nächsten Tage erwartet. Ministerpräsident Netanjahu scheint sich dem internationalen Druck zu beugen  ■ Aus Jerusalem Georg Baltissen

Die Stunde der Wahrheit rückt näher. Palästinensische und israelische Quellen berichteten am Wochenende übereinstimmend, daß eine Einigung über den zweiten Teilrückzug Israels aus den besetzten palästinensischen Gebieten unmittelbar bevorsteht. Es wird allgemein erwartet, daß Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu dem inoffiziellen US-amerikanischen Vorschlag eines 13prozentigen Teilrückzugs folgen wird. Die US-Regierung hat klar gemacht, daß sie ihren Vorschlag in den kommenden Tagen öffentlich machen wird, sollte keine Einigung erzielt werden. Außenamtssprecher James Rubin sagte in Washington, dies sei keine Frage von Wochen, sondern von Tagen.

Nach seiner Rückkehr von einer Auslandsreise erklärte Palästinenserpräsident Jassir Arafat vor Journalisten in Gaza, die USA hätten versprochen, daß der nächste Teilrückzug Mitte des Monats beginnen würde. Über den Umfang des Teilrückzugs machte er keine Angaben. Chefunterhändler Sa'eb Ereikat sagte im israelischen Rundfunk, daß die Palästinenser nur einen 13prozentigen Rückzug akzeptieren würden, wie er von den USA vorgeschlagen würde. Er schloß allerdings aus, daß die Palästinenser einen solchen Rückzug auch dann akzeptieren würden, wenn er mit einem nur zweiprozentigen dritten Teilrückzug verknüpft werde. Nach israelischen Medienberichten will Netanjahu, der bislang die Aussetzung des dritten Teilrückzugs forderte, zwei Prozent zugestehen, wenn gleichzeitig die Abschlußverhandlungen aufgenommen werden. Die Palästinenser erwarten, daß Israel sich vor den Abschlußverhandlungen aus knapp 90 Prozent der 1967 besetzten Gebiete zurückzieht. Nur die Siedlungen, Militärstützpunkte und Jerusalem sollen den Abschlußverhandlungen vorbehalten bleiben. So jedenfalls steht es in der Prinzipienerklärung von Washington, die der damalige israelische Außenminister Schimon Peres und Mahmoud Abbas (Abu Mazen) für die PLO unterschrieben haben. Abu Mazen sagte am Wochenende in einem Zeitungsinterview, daß er an die Fortsetzung des Oslo-Prozesses glaube, weil beide Völker die Idee akzeptiert hätten, daß es einen israelischen und einen palästinensischen Staat an seiner Seite geben werde.

„Beide Völker sind zu der Erkenntnis gekommen, daß sie Seite an Seite in diesem Land leben wollen“, sagte Abu Mazen, der als der pragmatischste PLO-Führer gilt. Doch die israelischen Siedlungen will auch er nicht akzeptieren. Die Siedler sollten ohne jede Bedingung und ohne jede Kompensation das palästinensische Gebiet wieder verlassen, sagt Abu Mazen. Sie seien nichts anderes als ein Produkt der Besatzung und von daher völlig inakzeptabel. Abu Mazen hat sich wiederholt mit Infrastrukturminister Ariel Scharon getroffen, der als möglicher Architekt eines israelischen Rückzugs gilt. Bislang hat sich Scharon allerdings geweigert, mehr als neun Prozent des besetzten Gebietes aufzugeben. Der palästinensische Justizminister Freih Abu Medein erklärte gegenüber der taz, daß er keine kurzfristige Lösung der Krise erwarte. „Wir stellen uns darauf ein, daß der Weg länger sein wird, als viele bisher angenommen haben“, sagte Abu Medein. Dennoch werde der Prozeß von Oslo weitergeführt werden.

Unterdessen gerät Israels Regierung noch von anderer Seite unter Druck. Die Groß-Israel-Protagonisten in der Knesset drohen nach wie vor damit, die Regierung zu Fall zu bringen, sollte sie auch nur einen Quadratzentimeter Land preisgeben. Und die Siedlerorganisationen haben eine Öffentlichkeitskampagne mit großen Anzeigen gestartet, um zu erklären, warum ihre Sicherheit gefährdet ist, sollte die Regierung 13 Prozent des Westjordanlandes preisgeben. Andererseits haben führende Repräsentanten der Arbeitspartei wie Schimon Peres oder Ra'anan Cohen erklärt, Netanjahu unterstützen zu wollen, wenn er einen 13prozentigen Rückzug in der Knesset zur Abstimmung stellt. Doch ist die Arbeitspartei wie immer in solchen existentiellen Fragen gespalten. Die Partei des „Dritten Weges“ und auch Yisrael Ba' Aliya, die russische Einwanderungspartei, fordern inzwischen nachdrücklich eine Regierung der „nationalen Einheit“, um den Rückzug abzusichern und einen Konflikt mit den USA zu vermeiden. Doch ihre Drohung, die Regierungskoalition bei einer gegenteiligen Entscheidung zu verlassen, mag in Israel niemand mehr ernst nehmen. Zu oft hat sich diese Ankündigung inzwischen als leere Drohung erwiesen. Selbst wenn er in seinem Kabinett keine Mehrheit für einen 13prozentigen Rückzug findet, weiß Netanjahu, daß die Mehrheit der Knesset ihm Rückendeckung geben wird. Von daher dürfte er in der kommenden Woche den US- Vorschlag mitsamt den israelischen Modifikationen im Kabinett einbringen und entweder dort oder aber in der Knesset auch tatsächlich durchsetzen. Bislang hat Netanjahu so getan, als könnte er dem US-amerikanischen Druck standhalten. Doch inzwischen spricht vieles dafür, daß er im Interesse Israels zum Nachgeben bereit ist. Aber gesichert ist dies nicht. Und es macht zumindest derzeit Netanjahus Stärke aus, daß niemand ihm in die Karten schauen kann. Böse Überraschungen sind deshalb keineswegs ausgeschlossen. Internationale Medienereignisse haben Israel in der Vergangenheit noch immer die Gelegenheit geboten, die wildesten Operationen durchzuführen. Und am Mittwoch beginnt bekanntlich die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich. Viele Wetten sind möglich.