Deutschland wird nicht Weltmeister!

Das Team des Deutschen Fußball-Bundes kann sich bei der WM mühen, wie es will: Für den Titel langt es nicht. Grund: Der Altersdurchschnitt liegt zu hoch – und der entscheidende Spieler fehlt. Ein Problem ist das aber nicht: Weder im Team noch im Land gibt es einen existentiellen Titelbedarf  ■ Von
Peter Unfried

1Das Alter

Natürlich ist ihm unwohl, und er „weiß jetzt schon, was passiert, wenn die Langeweile kommt“ vor oder während des WM-Turniers. Insbesondere aber nach dem Ausscheiden werden deutsche Journalisten dem DFB- Trainer Berti Vogts wieder den Altersdurchschnitt vorrechnen.

Das muß sein. Also bringen wir es bereits jetzt hinter uns. Die bisherigen Berechnungen führender Mathematiker ergaben alles mögliche zwischen 29 und 30. Dabei hat man gerade Zahlen herangezogen. Der Kapitän Klinsmann aber ist mitte Juni nicht 33, sondern 33 Jahre und zehneinhalb Monate, mithin 33,9. Nach dieser taz-Berechnung hat der DFB-Kader einen Altersdurchschnitt von 30,5. Nimmt man dreizehn vermeintliche Topspieler, kommt man gar auf 31,6.

„32,9“, schätzt Vogts, werde man ermitteln, wenn es nicht so gut laufe – ein Witzchen sollte das sein. Tatsächlich kann er immerhin 32,3 erreichen, wenn er entsprechend aufstellt. Das Team – ohne Hamann, Jeremies und Ziege – ist nicht einmal so unwahrscheinlich. Sein Benjamin hieße Möller (30,9).

2Ist Alter eine Schande?

Seit Jahrhunderten wird darauf beharrt, die Güteklasse eines Fußballers sei nicht an seinem Alter festzumachen. Stimmt. Aber: Die eines Teams schon. Der älteste Haufen, der nach 1950 den WM-Titel holte, war Brasilien 1962 (29,8 Jahre) – eine echte Ausnahme. Es war die gealterte Variante des überragenden Weltmeisters 1958 (27). Brasilien 1994 hatte einen Schnitt von 28 Jahren – nur Herbergers Kriegsheimkehrer waren älter (28,2). Mario Zagallo, der brasilianische Trainer, ist zu dem Schluß gekommen, der Schnitt müsse „etwa 28 Jahre sein“. Selbst wenn die Temperaturen in Frankreich nicht so hoch sein werden wie die in den USA, hält er „etwa fünf Spieler über 30“ für die Obergrenze.

Kriegt Vogts als weltweit erster zwölf Thirtysomethings so knackig, daß sie die anderen Topteams (Schnitt: 27 bis 28) überrennen?

3Das Erbe des EM-Siegers

Von deutscher Tugend, deutschem Willen und deutschem Teamgeist, kurz: dem „Charakter der Mannschaft“ (Vogts), ist beim Europameisterschaftssieg 1996 oft genug und mit einer gewissen Berechtigung gesprochen worden. Andererseits: Selten hat man ein deutsches Fußballteam so hoffnungslos unterlegen erlebt wie beim 0:0 im EM-Vorrundenspiel gegen Italien. Die Italiener waren sogar disziplinierter als die Deutschen. Warum sie dann nicht gewannen? Zola verschoß einen Elfer, und Köpke hielt auch den Rest. So war das. Das EM-Team aber war immer noch eine jüngere Variante des jetzigen Teams – und es hatte nicht nur Glück, es hatte Sammer.

4Sammer hat die WM gegen den DFB entschieden.

Wer ist der Beste? Olaf Thon oder Lothar Matthäus? Matthias Sammer, sagt Berti Vogts, „spielt mit Abstand den besten Libero“. Genau. Sammer ist der Spieler, der 1996 den Unterschied machte. Sammer ist der Mann, der sich dem Gleichgewicht der Taktiken entziehen kann – im Alleingang. Sammer ist der Spieler, der dem eigenen System das besondere Etwas geben kann, das das System das Gegners nicht zu neutralisieren vermag. Aber Sammer spielt nicht (mehr).

Fußball ist ein physisches Spiel. Spieler wie Ronaldo, Shearer, Möller und Bierhoff können entscheidende Tore schießen – Spielfeld und Spiel dominieren können sie nicht. Das können einzig Spieler, denen man den Ball nicht hinspielen muß – sondern die ihn dem Gegner persönlich wegnehmen, bevor sie höchstselbst Entscheidendes damit anfangen. Sammer ist Netzer und Vogts in einer Person, nicht so genial-kreativ wie ersterer, nicht so unerbittlich zweikampfstark wie zweiterer, aber in der Kombination der wesentlichen Aspekte des Spiels, Physis, Durchsetzungsvermögen, Kreativität, taktische Spielintelligenz, europaweit womöglich unerreicht.

„Sammer“, sagt Vogts, „hatte wirklich mein Denken, meine Umsetzung drauf. Der hat in einer Situation sofort entschieden. Und alles, was er entschieden hat, war richtig.“ Matthäus? Thon? Oder doch beide? „Wir müssen einen Antrag bei Sepp Blatter stellen“, sagt Vogts, „daß wir mit zwölf Spielern spielen können.“ So gut war Sammer!

5Wer soll die Tore schießen?

Natürlich die, die immer die Tore schießen: Klinsmann (43), Möller (29), Matthäus (22), Kirsten (12 DFB- und 14 DFV- Tore), Bierhoff (15), Häßler (11). Auf Matthäus' Tore sollte man nicht mehr setzen, Häßlers Wahrscheinlichkeit liegt bei einem Treffer in neun Spielen. Möller? Hat in vier Turnieren ein Tor gemacht (1996 gegen die Tschechen). Bleiben die Stürmer.

Oliver Bierhoff umgibt trotz zweier Tore gegen Kolumbien bis WM-Beginn ein Zweifel: Ist der wirklich ein außergewöhnlicher Stürmer? Einerseits muß er es sein, ansonsten hätte er in Italiens Serie A nicht die meisten Tore erzielt, 27 genau. Andererseits: War in Udine alles auf ihn und seine Bedürfnisse abgestimmt. Im DFB-Team (Bierhoff-Quotient: 0,61) arbeitet man erst daran. Dennoch ist Bierhoff im Moment Vogts einzige erfolgversprechende Tormaschine, mehr noch als der ähnlich arbeitende Ulf Kirsten (DFB: 0,41 + DFV: 0,28).

Jürgen Klinsmann (Quotient: 0,42) ist der Spieler, dessen große WM die von 1994 hätte werden können. Heute wird er sich immer noch „den Arsch aufreißen“ (Klinsmann), die Pressingarbeit übernehmen, die Wege ablaufen. 1970 in der Hitze Mexikos ist der ehrwürdige Kapitän Uwe Seeler 33jährig für den jüngeren Gerd Müller gerannt, bis der Torschützenkönig war. Weltmeister wurde man dennoch nicht.

6Es gibt keinen existentiellen Titelbedarf im Team.

Berti Vogts könnte einen WM-Titel gebrauchen, Matthias Sammer würde sich dafür verzehren. Klinsmann, Matthäus, Häßler, Kohler und der eingewechselte Reuter standen in Beckenbauers Finalelf von 1990, Thon und Möller spielten während des Turniers, Köpke saß immerhin auf der Bank. Existentiellen Titelbedarf hatten sie bereits 1994 nicht mehr – was letztlich schnurstracks zum Viertelfinalaus von New York führte. Vogts' 94er Version war eine modifizierte Variante von Beckenbauers 90ern, die er 96 gründlich runderneuerte. Nachdem er nun die alten Kreativkräfte Thon und Matthäus zurückholte, jüngere wie Effenberg, Basler und Scholl abstieß, nähert er sich wieder der Grundversion. Auch aus dem Osten (Kirsten, Marschall, Jeremies, Freund) kommt nichts entscheidend Neues. Zwar holte Vogts Steffen Freund (“Wie der beißt!“) eigens, um in existentieller Hinsicht „ein Zeichen zu setzen“ – doch ein bißchen Fußball sollte schon sein.

7Es gibt keinen existentiellen Titelbedarf im Land.

Man hat andere Sorgen, doch die sind noch nicht so groß, als daß man eine Fußball-WM als Kompensation oder Betäubung brauchte. Allenfalls Helmut Kohl wird sich nach einem WM-Titel verzehren, um ihn für sein Unternehmen Titelverteidigung vereinnahmen zu können. Seine Chancen, Kanzler zu bleiben, stehen immerhin besser als die von Vogts, Weltmeister zu werden. Das sagt alles.

8Gegenfrage: Ist es nicht so, daß das DFB-Team kaum verliert?

Stimmt. Seit dem Viertelfinalaus 1994 hat Vogts gerade dreimal verloren. „Wir können jede Mannschaft schlagen“, sagt er gerne, „aber es ist sehr schwer, uns zu schlagen.“ Geschafft haben es tatsächlich nur erneut die Bulgaren (1995) mittels mäßig temporeicher Kreativität und die wirklichen Topteams Frankreich (1996) und Brasilien (1998). In beiden Partien war es so, daß im Messen qualitativ ähnlicher Teams der Gegner nicht wirklich kreativer war, sondern die Deutschen nicht ordentlich, nicht diszipliniert genug.

9Ist es nicht so, daß die Deutschen sämtliche Verlängerungen und Elfmeterschießen gewinnen?

Die Mannschaft, die das Tempo am längsten hochhält, die im konditionellen Bereich am weitesten ist, wird das schwere Turnier gewinnen. Sagt Berti Vogts. Bei weltweit sich angleichenden Systemen und ähnlich ausgebildeten Spielern wird die Fitneß entscheiden. Das fittere Team gewinnt auch die Verlängerungen und die Elfmeterschießen. Um so weit zu kommen, braucht es mindestens einen wirklich überragenden kreativen Spieler für die eine entscheidende Aktion. Vogts' Team wird so fit und so kreativ sein, wie es den Spielern möglich ist. Reichen wird das nicht.