: Leiser Verfall der Joblosen-Aktie
Arbeitslosigkeit im Mai: Wertpapiere, Statistiken und Lehrstellenmangel ■ Von Karin Flothmann
Der „Wert der Zukunft“ prangt seit gestern auf Aktienpapier. Eingeführt wurden die Anteilsscheine der VZBVA-Holding vor der Hamburger Börse am Adolphsplatz, und zwar von rund 150 Erwerbslosen. Denn VZBVA steht für den „Verein zur Betreuung von Arbeitslosen“ beim Gewerkschaftsbund DGB.
Anläßlich der Bekanntgabe der neuen Erwerbslosenzahlen gab's die Zukunftsaktie gestern sogar umsonst. „Sorgen Sie dafür, daß Sie dieses Papier nie zeichnen müssen“, lautete die fürsorgliche Bitte auf dem Papier. „Wählen Sie am 27. September 1998 durch Ihre Stimmabgabe die jetzige Regierung ab.“ Von CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem Kabinett sei schließlich nicht viel mehr zu erwarten, als daß Probleme ausgesessen oder verschlafen würden.
Während sich ein Teil der Hamburger Erwerbslosen auf diese Art um ihre politik- und wahlmüden MitbürgerInnen bemühte, blieb Arbeitsamtschef Olaf Koglin neutral und statistisch: 89.231 Hamburger Arbeitslose hat sein Amt im Mai registriert. Das sind 2400 weniger als im April und sogar 1600 weniger als im Mai vorigen Jahres. Seit Jahresbeginn wurden 30.000 freie Stellen gemeldet – so viele wie seit 1979 nicht mehr. „Der Arbeitsmarkt in Hamburg“, lautete denn auch Kolgins Fazit, „ist deutlich stabiler als vor einem Jahr.“
Eher gedämpft war dagegen die Stimmung von Hans-Otto Bröker, dem Leiter der Berufsberatung in der Behörde. Auf 100 Jugendliche, die eine Lehrstelle brauchen, kommen nur 65 Angebote aus Industrie, Handel und Verwaltung. Rund 9.400 Jugendliche suchten seit Oktober mit Hilfe des Arbeitsamtes einen Ausbildungsplatz, 3121 von ihnen haben bis heute keinen gefunden. Vor einem Jahr allerdings sah diese Bilanz auf den ersten Blick schlechter aus. Damals fehlten Ende Mai noch mehr als 4.300 Lehrstellen.
Auf den zweiten Blick offenbart sich jedoch schnell, daß das Arbeitsamt für diesen Aufschwung selbst verantwortlich ist. Neuerdings wird nämlich nur noch derjenige von der Statistik erfaßt, der seinen Berufsberater regelmäßig über die Fortschritte bei der Lehrstellensuche informiert. Meldet sich jemand nicht mehr, fliegt er nach fünf bis sechs Wochen aus der Kartei. „Wir erwarten, daß das, was wir in die Jugendlichen investieren, von ihnen auch honoriert wird“, rechtfertigte Bröker die neue Praxis.
Schulabgänger, die trotz aller Bemühungen keine Lehrstelle finden, dürfen dennoch hoffen. Da das Projekt Quas (Qualifizierung und Arbeit für Schulabgänger) im vergangenen Jahr so erfolgreich war, will das Arbeitsamt das Angebot von derzeit 250 auf insgesamt 950 Plätze erweitern. Im Gegensatz zum reinen Berufsvorbereitungsjahr, in dem Jugendliche nur schulisch weitergebildet wurden, verbindet Quas mit einem Praktikum Unterricht und erste Berufserfahrung. Mehr als die Hälfte aller TeilnehmerInnen fand daraufhin – zumeist im Praktikumsbetrieb – eine Lehrstelle.
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