Stille Tage mit Berti
: Nein: Wimmer

■ Es wird „ernst“ (Vogts), die Maschine sackt weg, zwei Bundestrainer sitzen auf der Bank

Er hatte die Augen fest geschlossen, als er eine Hand an seinem Arm fühlte. Ob man helfen könne? Er sah in das Gesicht einer Frau. Was sagte dieses Gesicht? Daß die Frau nicht jung war. Daß die Frau sehr besorgt war. Es gehe schon, danke.

Es ging ja immer wieder. Als aber die Maschine dann zum dritten Mal nach unten weggesackt und das Essen durch die Kabine geflogen war, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Eine Rinne lief den Rücken hinab in die Jeans. Er mahnte sich zur Konzentration, er zwang sich die Elf von 1972 aufzusagen. Maier, dachte er. Das hatte noch immer geholfen. Höttges, Breitner, Schwarzenbeck, Beckenbauer. Und plötzlich: Enschede. Nein: Wimmer. Wimmer, Hoeneß, Netzer.

Die Frau schrie. Nach dem Steward. Er blickte auf. Der Steward saß angeschnallt in seinem Sitzchen. Der Steward lächelte ihn jetzt an. Als er glaubte, daß es genug sei, lächelte er nicht mehr, sondern wischte sich den Schweiß. Der Steward war ein junger Franzose aus der Gegend von Nizza. Das hatte die Frau von gegenüber einmal erfragt. In Nizza würde er demnächst vielleicht auch sein. Heynckes, dachte er, Müller. Er würde in jedem Fall in Nizza sein. Er mußte an einem bestimmten Tage sich dort einfinden. Er hatte eine wichtige Aufgabe, die es ihm nicht erlaubte, sich an einem bestimmten Tag nicht dort einzufinden.

Vor ihm hatte eine Mutter über ihr schlafendes Kind hinweg nach der Hand eines Mannes gegriffen. Gab es eine Möglichkeit außerhalb seiner Einflußnahme, die es verhindern konnte, daß er sich an einem bestimmten Tag in Nizza einfände? Er hatte immer gedacht, nein. Jetzt dachte er: Kremers.

Später trank die Frau Gin Tonic, schickte den Steward nach Wasser für ihn, preßte ihm ein Erfrischungstuch ins Gesicht und fragte ihn, was er von Beruf sei. Ein unangenehmer Geruch stieg über seine Nase ins Gehirn. Er dachte: Wienerwald. Er sagte: Fußball-Korrespondent. Er dachte: Der heutige Bundestrainer hat 1972 nicht gespielt, weil er nach einer schweren Verletzung den zurückgekehrten Höttges nicht mehr rechtzeitig verdrängen konnte. Der heutige Bundestrainer saß auf der Bank. Neben dem damaligen Bundestrainer. Auf ihren fragenden Blick sagte er: Er habe über die WM zu berichten, vor allem über Berti Vogts. Es hörte sich seltsam an.

*Saint-Paul de Vence, Aufenthaltsort der deutschen Fußballer, ist ein sogenanntes Künstlerdörfchen. In den stillen und, ähem, pittoresken Gäßchen folgt auf die eine Galerie auch schon die nächste. Fußball-WM ist hier nicht. Keine Bar lockt Kundschaft damit, man könne WM-Spiele sehen. Wenn doch eine Stimme die Stille überwindet und die offenbar zu Besorgnis Anlaß gebende Vorstellung der Deutschen beim 2:1 gegen eine Regionalauswahl monologisiert – gehört sie zu einem deutschen Fachjournalisten.

Es gibt allerdings eine Galerie, in der hängt ein Bild. Zwei kräftige Frauen tragen zu entblößtem Oberkörper Sporthose, Stutzen und adidas- Schuhe. An der unterschiedlichen Farbe der Hosen erkennt man, daß sie Gegnerinnen sein müssen. Und doch sieht es eher aus, als tanzten sie miteinander, die Augen halb geschlossen. Der Ball derweil verzückt zwischen ihnen in der Luft schwebt. Ist das nicht ein schönes Bild, eine schöne Idee von Fußball, grade jetzt, wo es „ernst“ (Berti Vogts) wird?

*Gary McAllister hat einen Satz gesagt, das WM-Auftaktspiel Brasilien – Schottland betreffend. „Abgesehen vom Finale“, befand der verletzte Schotten-Kapitän, „ist es das größte Spiel des Turniers.“ Bei allem angebrachten Pessimismus: Das will nun wirklich keiner hoffen. Peter Unfried