Kritisieren mit Karl

■ Helmut Reichelt suchte in der Villa Ichon nach dem Kritikbegriff bei Marx

Es ist in diesen Zeiten nicht allzu populär, sich mit dem Schrifttum des ollen Karl Marx zu beschäftigen. Deshalb reichte ein kleiner Raum der Villa Ichon aus, die Schar derer zu fassen, die am Dienstag den Vortrag des Bremer Soziologie-Professors Helmut Reichelt zu hören gekommen waren.

Die Fragestellung war, wie der Begriff der Kritik, der ja nicht selten in den Titeln der Marx-Werke auftaucht, zu verstehen sei. Reichelt – wie es so schön heißt: Schüler von Adorno und Horkheimer – ging es im wesentlichen um das Spätwerk. Genauer: um das so berühmte wie berüchtigte „Kapital“. Das ist unterschieden vom Kritikverständnis des Frühwerks, wo Marx die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen will, indem er ihnen die eigene Melodie vorspielt. Der andere Kritikbegriff, den Reichelt also im Spätwerk verortet hatte, sei allerdings, sagte er, nun eine noch nicht in letzter Konsequenz geklärte Sache.

Diese abzuleiten mühte sich der Referent daher nach Kräften. An Problemen ökonomischer Theorie hinsichtlich des Begreifens von Sozialprodukt und Wertvolumen arbeitete er sich schließlich immer näher an einen vermuteten Begriff von der Marx'schen Methode heran. It's called „Kritik als wissenschaftliche Methode der Beweisführung“. Und die bezieht sich nicht tautologisch auf eine Erscheinung. Kritik in diesem Sinne ist vielmehr, jede Erscheinung als aus einer Entwicklung hervorgegangen nachzuweisen.

So weit, so gut. Nach einer Zigarette sollte noch diskutiert werden. Und da wurde dann unterschiedlicher Wissenstand ebenso evident wie unterschiedliche Interessen. So wollte geklärt sein, was denn bitteschön dieser Marx'sche Materialismus eigentlich sei (sympathisch, wenn Leute auch mal nachfragen). So kam es auch vorübergehend zu einer Erörterung Reichelt'scher Thesen. Ist Marx' Theorie nun Erkenntnistheorie oder Darstellung von Wirklichkeit? Hier wurde es philosophisch, und prompt schieden sich da die Geister.

Ist denn die schlichte Feststellung der Differenz zwischen einer auf Kapitalvermehrung angelegten Produktion und der damit notwendig nicht einhergehenden Befriedigung materieller Bedürfnisse einfach so zu vollziehen? Manch' Philosoph hat da Einwände, weil er die Realität ersteinmal gar nicht als solche sehen zu können meint. So schlicht postmodern läßt sich eine Menge bestreiten.

Aber dieser Diskussion war nun keine Klärung beschieden, nur ein Ende, weil andere Besucher sich lieber an eigener Belesenheit delektieren wollten. Ethymologische Herleitungen von Kritik wurden frei mit den Lebensumständen berühmter Persönlichkeiten assoziiert, Namen wurden gedroppt, ganz, wie Studierende das von der universitären Beschäftigung mit derlei Materie kennen.

Marxistische Abendschüler scheinen sich da nicht notwendig anders zu verhalten. Ist halt die Frage, welche Zwecke diese Auseinandersetzung mit Marx hat, wenn sie kein politischer Stammtisch sein soll.

Andreas Schnell