Keralisches Kino unter der Lupe

Im südindischen kommunistischen Musterland Kerala finden sich rund zehn Prozent aller indischen Kinos  ■ Von Dorothee Wenner

Ganz unten an der Südspitze Indiens liegt das Lieblingsland vieler frustrierter Entwicklungshelfer: Kerala. Der Staat hat etwa die Größe Baden-Württembergs, aber es gibt noch manch weitere Gemeinsamkeit mit dem „Musterländle“. Kerala ist sehr grün, sehr sauber, sehr dörflich-traditionsbewußt und in vieler Hinsicht vorbildlich – zum Beispiel, wenn man das Gesundheits- und Schulwesen genauer betrachtet. Im Unterschied zu Baden-Württemberg allerdings gehen die Errungenschaften in Kerala auf das Konto der kommunistischen Partei, die es erstmalig im Jahre 1957 schaffte, den Wahlsieg davonzutragen, und im Anschluß daran eine Landreform erfolgreich durchführte.

Von der Popularität der kommunistischen Ideologie künden auch heute noch allgegenwärtige Hammer-und-Sichel-Denkmale, Che-Guevara-Büsten und die Erwähnung der fast 100prozentigen Literatizitätsquote in jedem zweiten Gespräch. Beliebter noch als das Bücher- und Zeitungslesen ist jedoch der Kinobesuch: Knapp zehn Prozent aller indischen Filmtheater befinden sich in Kerala. Und rein statistisch sieht der keralische Bürger am liebsten Filme in seiner eigenen Sprache, die Malayalam heißt und hübsche Kringel als Buchstaben hat.

Die Filmindustrie im südlichen Indien kam etwas später und wesentlich langsamer in Schwung als in Bombay und Madras. Eine erste Blütezeit begann Ende der 60er Jahre, als engagierte Filmemacher wie Adoor Gopalakrishnan oder John Abraham aus Geldnot und Überzeugung „Filmkooperativen“ gründeten. John Abraham, der Anfang der 70er seine bürgerliche Existenz als Wirtschaftswissenschaftler und Versicherungskaufmann zugunsten eines nomadischen Lebens aufgab, verdiente sein Geld mit einem ambulanten Landkino. Er zeigte in den keralischen Dörfern eine 16-mm-Kopie von Charlie Chaplins „The Kid“ und bat das bäuerliche Publikum im Anschluß an die Vorstellung um Geld zur Finanzierung seines Volksfilms „Amma Ariyan“ – Bericht an eine Mutter.

Marxistische Filmkunst und Filmkooperativen

Das Konzept funktionierte so gut, daß der eigentlichen Geschichte eine Art Prolog vorangestellt wurde, in dem enthusiastisch für die Gründung von weiteren Filmkooperativen geworben wird, um das soziale Bewußtsein im Lande verbessern zu können. Erst nach diesem Aufruf macht sich der Held Purushan – wie alle Darsteller in diesem Film ein Amateur – auf die Reise, um in Delhi einen Job zu suchen. Doch der Weg führt an einer Leiche vorbei: Sein entfernter Aktivisten-Bekannter Hari hat Selbstmord gemacht. Purushan beschließt, die Ursachen zu ergründen, und sucht andere Bekannte des Toten auf, die bestürzt über die Nachricht sind. Sie alle schließen sich spontan zusammen, beklagen die Ausbeutung und Unterdrückung, an der Hari zugrunde gegangen ist – und bilden allmählich eine Massendemonstration, die sich auf den Weg zur Mutter des Toten macht. Der Schwarzweißfilm gilt zu Recht als ein Meilenstein marxistischer Filmkunst, was ihn interessant, aber nicht gerade zu einem Paradebeispiel leichtfüßiger Unterhaltung werden läßt. In einer selbstkritischen Reflexion über die 70er Jahre meinte der Regisseur Girish Karnad einmal, das engagierte indische Kino habe einfach zuwenig Humor – worauf Anil Dharker antwortete, daß dieser Mangel bereits vor 200 Jahren begonnen habe, als die indische Literatur zu lachen aufhörte.

Tatsächlich bevorzugten die keralischen Filmkooperativen ernste und gesellschaftlich wichtige Themen wie Telefonnetze, Lebensversicherungen, Kautschukgewinnung und Familienplanung – Adoor Gopalakrishnan erinnert sich, daß damals eigentlich jede aktuelle Gelegenheit wahrgenommen wurde, Kurz- oder Dokumentarfilme zu drehen. Er selbst wurde jedoch eher durch seine wunderbaren Spielfilme wie „Anantatarm“ oder die Ehetragödie „Swayamvaram“ bekannt, die wie Geistesverwandte des italienischen Neorealismus wirken. Inzwischen ist die Zeit der Filmkooperativen vorbei – und nach einer nicht sehr spektakulären Periode der Umorientierung präsentiert sich das keralische Kino jetzt mit einem neuen Selbstbewußtsein: Das kommerzielle und das sogenannte parallele Kino haben eine erstaunlich gut funktionierende Ehe geschlossen! In der Hauptstadt Trivandrum wurden jüngst auf einem großen internationalen Filmfestival die interessantesten Produktionen des letzten Jahres gezeigt.

Die wichtige Rolle real existierender Geister

Anders als das leicht hysterische Bollywood-Kino, das fast ausschließlich in Studio-Phantasie- Welten spielt, hat das keralische Kino den Bezug zur Realität nicht verloren. Allerdings spielen – wie ja übrigens auch in der keralischen Wirklichkeit – Geister häufig eine wichtige Rolle. Der überaus populäre Regisseur Hariharan beispielsweise läßt in „Ennu Swanthon Janakikutti“ die 14jährige Janakikutti Freundschaft mit einem weiblichen Waldgeist schließen. Während alle andern im Dorf die schöne Erscheinung im weißen Sari für abgrundtief hinterhältig und böse halten, versteht die pubertierende Brillenträgerin den Geist zu einer feministischen Komplizin ihrer Rachepläne gegen gemeine Familienangehörige zu machen.

Während diese Geschichte nicht frei von Naivität erzählt wird, gelang es dem ehemaligen Elektroingenieur Jayaraj mit „Kaliyattam“ ein echtes Meisterwerk. Dieser Film ist eine keralische „Othello“-Adaption, die bar jeder Folklore die Theyyam-Tänze zum Ausgangspunkt des Shakespeareschen Eifersuchtsdramas werden läßt. Überall in Nordkerala finden alljährlich Theyyam-Festivals statt – Kerala ist berühmt dafür, jedes kleine Kulturereignis in mehrtägige Festivals zu transformieren –, bei denen die Dorfbewohner in Götterkostüme schlüpfen. In extrem aufwendiger Kostümierung gibt es nach tranceartigen Tanzdarbietungen für die Dorfbewohner Gelegenheit, mit den „Göttern“ aktuelle Dorfangelegenheiten zu regeln.

Othello, der in diesem Film Perumalayan heißt, ist einer dieser Götter, der trotz seines pockennarbigen Gesichts die Liebe der schönen Landbesitzertochter Thamara gewinnt. Statt – wie im Original – nach Zypern zieht das Ehepaar in die grüne Bergwelt Keralas, wo durch Intrigen die Liebe zerstört wird. Thamara wird schlafend von ihrem irregeleiteten Ehemann mit dem Kopfkissen erstickt. Diese Machogeschichte scheint nicht frei von Anspielungen auf die keralische Gegenwart, denn allen revolutionären Bekenntnissen zum Trotz scheint sich die Situation der keralischen Frauen nicht sonderlich von der im restlichen Indien zu unterscheiden.

Suma Josson, die einzige keralische Filmemacherin, beklagte ihre einsame Stellung im Rahmen des Trivandrum-Festivals öffentlich und machte sich damit unter den bärtigen, marxistischen Regiekollegen nicht unbedingt Freunde. Ihr Film „Janmadinam“ – Der Tag der Geburt – war ursprünglich für die „Schmuddelecke“ am letzten Tag vorgesehen und konnte nur durch eine massive, von der Presse unterstützte Kampagne ins Zentrum gerückt werden. Dieser nichtlinear erzählte Film zeigt eine Mutter- Tochter-Beziehung, die ihren Ausgangspunkt in einem Krankenzimmer nimmt, in dem die Tochter auf die Geburt ihres ersten Kindes wartet. Wie Suma Josson verdient die Hauptdarstellerin ihres Films in Bombay als TV-Reporterin ihren Lebensunterhalt. Politik – insbesondere die 1993er Bombay- Riots – bildet die Kulisse des Films, der durch seine Ehrlichkeit besticht. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter könnte einerseits enger nicht sein – aber genau diese Nähe produziert außer Liebe auch Haß und Tabus. Plötzlich begreift man in diesem Film, warum Töchter und Mütter am Ende eben nicht über alles reden können.

Der schönste der neuen Filme aus Kerala heißt „Bhoothakkannadi“ – Das Vergrößerungsglas – und erzählt die Krankengeschichten eines Uhrenreparateurs. Allerdings versteht man erst ganz am Ende, daß der Protagonist Vidyadharan unter Schizophrenie leidet, am Anfang scheint er einfach nur hypersensibel, und seine Angst vor Schlangen erklärt sich durch den tragischen Tod seiner Frau, die von einer Kobra gebissen wurde. Sein „professioneller“ Blick durch das Uhrenvergrößerungsglas entstellt allmählich seine Sicht auf die Welt, läßt Relationen falsch werden und die Liebe zu seiner Tochter in übergroße Ängstlichkeit entgleiten.

„Das Vergrößerungsglas“ ist eine Liebesgeschichte mit melodramatischem Ende – und ein Beispiel für das wundersam wiederbelebte Erzählkino in Südindien. Damit hat Kerala Chancen, zum neuen Lieblingsland von Cineasten zu werden, die den Glauben an gutes Kino aus der Dritten Welt noch nicht verloren haben.