Der ICE-Unfall von Eschede ist nach Ansicht Paul Virilios nicht einem Versagen der Technik oder der Geschwindigkeit an sich zuzuschreiben. Geschwindigkeit, so der Experte in Sachen Unfälle und Katastrophen, läßt sich nicht isoliert betrachten. Geschwindigkeit habe immer wirtschaftliche und politische Gründe und sei die Folge eines Wettrennens. Der Unfall von Eschede ist Virilio zufolge das Ergebnis eines Wettlaufs zwischen den Prestigeprojekten ICE und TGV. Mit dem französischen Philosophen sprach unsee Frankreich-Korrespondentin Dorothea Hahn

„Wer Technik erfindet, erfindet Katastrophen“

taz: Herr Virilio, was sagt uns der ICE-Unfall von Eschede?

Paul Virilio: Die ICE-Katastrophe von Eschede paßt in unser Jahrhundert von Unfällen. Das 20. Jahrhundert ist ein Unfallmuseum. Ich meine nicht Naturkatastrophen wie Erdrutsche, Erdbeben und Überschwemmungen, sondern Unfälle, die die Frucht der Technik sind. Wenn man die Technik erfindet, erfindet man auch katastrophale Unfälle, die zu diesem gnadenlosen Jahrhundert gehören. Dazu zählen der Untergang der Titanic, Tschernobyl und das ICE-Unglück ebenso wie Auschwitz und Hiroshima.

Auschwitz und das ICE-Unglück im selben Atemzug?

Diese Katastrophen hängen mit der Macht der Technik zusammen. Titanic und Tschernobyl sind zwei sehr unterschiedliche Objekte, genau wie Auschwitz und Hiroshima. Aber sie sind beide mit der Technikwissenschaft verbunden.

Das Gas ZyklonB ist in Auschwitz eingesetzt worden, um Menschen zu töten. Der ICE hat die Funktion, Menschen zu befördern...

Ich versuche nur zu zeigen, daß dies ein Katastrophenjahrhundert auf allen Ebenen ist: einerseits auf der Ebene des Zerstörungswillens – sei es durch die Atombombe oder die Massenvernichtung, andererseits durch den technischen Fortschritt, symbolisiert durch die Titanic oder Tschernobyl. Nehmen wir doch als Beispiel mal das Hypersonic-Flugzeug mit 1.000 Plätzen. Das heißt: 1.000 Tote. Das gilt auch für ICE und TGV: Wer einen Hochgeschwindigkeitszug erfindet, erfindet eine Hochgeschwindigkeitskatastrophe. Die Technik ist gleichzeitig positiv und negativ. Deswegen muß man das Prinzip der Intelligenz der Negativität in die Wissenschaft einbeziehen.

Was ist die Intelligenz der Negativität des ICE-Unfalls?

Daß Geschwindigkeit nicht ein Problem von Zeit zwischen zwei Punkten ist, sondern ein Problem des Milieus, des ganzen Umfeldes. Also eine Summe von Ereignissen.

War der Unfall vorhersehbar?

Wenn man davon ausgeht, daß ein Unfall, der einen Teil betraf, sich auf das Ganze übertragen konnte – ja. Da gab es einen Irrtum im Verhältnis zu dem Wissen über die Geschwindigkeit. Es gibt für das Problem ein eindrückliches Beispiel aus den USA. Eines Tages geriet eine Hängebrücke aufgrund starken Windes ins Schwingen. Sie vibrierte und drehte sich immer weiter, bis sie riß.

Hat ein solcher Unfall auch was Produktives?

Es sind immer Unfälle, die ein technisches Objekt voranbringen. Als die Eisenbahn erfunden wurde, haben sich die Ingenieure nach einer Entgleisung versammelt, um ein Warnsystem zu entwickeln. Das hat bis heute den Fortschritt ermöglicht.

Sie sind nicht grundsätzlich gegen Hochgeschwindigkeitszüge?

Geschwindigkeit kann nicht isoliert betrachtet werden. Natürlich kann man exzessive Geschwindigkeit kritisieren, weil das eine Gewalt ist.

Was nennen Sie exzessiv?

Wenn man das Tempo nicht mehr kontrolliert. Ich will nicht sagen, daß man zum Fußmarsch oder zum Pferd zurückmuß. Die Technik muß konstant in einem Verhältnis zur Kontrolle der Geschwindigkeit stehen. Je schneller ein Zug fährt, desto weniger Haltestellen gibt es, desto katastrophaler sind die Unfälle. Desto radikaler muß folglich die Kontrolle sein.

Welchen Rat geben Sie den ICE-Konstrukteuren?

Ich habe Leuten, die Fahrzeuge bauen, keinen Rat zu erteilen. Meine Arbeit ist viel allgemeiner. Für mich ist die Geschwindigkeit ein Milieu. Und es ist das letzte Milieu, in dem wir leben. Mit der Telekommunikation, dem Hochgeschwindigkeitszug, dem Handy, dem Internet, den Jets, den Hypersonic-Flugzeugen mit 1.000 Sitzplätzen ist die Geschwindigkeit unser Milieu. Es muß ein Verständnis dieses Milieus geben, das zugleich politisch, technisch und auch wissenschaftlich ist. Damit wir Katastrophen in Serie, der Industrialisierung der Katastrophen, widerstehen können.

Es handelt sich also nicht um ein rein technisches Problem?

Die Geschwindigkeit berührt alles: die Wirtschaft, die Sitten, das Überleben, die Raumgestaltung.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem ICE-Unfall und der Politik?

Es hat einen Wettlauf zwischen dem französischen TGV und dem ICE gegeben. Ich glaube, daß das deutsche Modell den Wettlauf verloren hat. Dieser Unfall hängt mit diesem Wettlauf zwischen zwei Unternehmen zusammen. Es wäre besser gewesen, die beiden hätten sich zusammengetan, um einen europäischen Zug zu entwickeln.

Wird der Unfall politische Konsequenzen in Deutschland haben?

Ganz sicher. Da braucht man bloß Schröder zu sehen, der sich beeilt, die Nothelfer zu treffen. Das gilt für alle großen Katastrophen, auch für Tschernobyl.

Welche Folgen wird das ICE- Unglück für den Standort Deutschland haben, wo Effizienz und Sicherheit Exportargumente sind?

Das ist schwer zu sagen. Dieser Unfall schafft Unordnung, dazu noch zu einem Zeitpunkt, da Deutschland wenn schon nicht sein politisches System, so doch gewiß seine Politiker auswechseln wird. Der Unfall stellt die Ernsthaftigkeit der Industrie in Frage.

Ergibt das dann ein verändertes Deutschlandbild?

Nein. In einem Monat wird man nicht mehr davon sprechen. Wenige Tage nach einem Ereignis im Fernsehen hat man es schon vergessen, weil es ein neues Ereignis gibt, das es ersetzt: vielleicht eine Entgleisung oder der Absturz eines französischen Flugzeugs. Die Geschwindigkeit ist zuallererst die Geschwindigkeit der Information, die Geschwindigkeit des Vergessens. Man hat das Vergessen industrialisiert.

Seit dem Unfall diskutieren die Deutschen über Sinn und Unsinn von Geschwindigkeit. In Frankreich hingegen, das ein dichtes TGV-Netz hat, ist das Zugunglück schon nach zwei Tagen aus den Schlagzeilen verschwunden. Woher kommt diese unterschiedliche Reaktion?

Jedes Mal, wenn ich in Frankreich interveniere, werde ich als Katastrophist beschrieben. Als Apokalyptiker und als zu pessimistisch. Die Franzosen wollen optimistisch sein. Und sie wollen sich nicht damit befassen, was angst macht. Frankreich ist ein Land, das Angst hat.

Woher kommt diese Angst?

Ich weiß nicht, ob das mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängt oder mit dem Niedergang der französischen Weltmacht seit der Dekolonisierung. Fakt ist, daß Frankreich Angst hat und sich an den Optimismus klammert.

Wird der ICE-Unfall Auswirkungen auf Hochgeschwindigkeitszüge im allgemeinen haben?

Ja. Es ist der erste große Unfall von Hochgeschwindigkeitszügen, die bislang als so sicher wie die Titanic galten. Das wird nicht nur die Deutschen dazu bringen, Fragen zu stellen. Auch die Franzosen wissen jetzt, daß der TGV nicht hundertprozentig sicher ist.

In Ihren Büchern unterscheiden Sie verschiedene Unfalltypen. Worum handelt es sich in Eschede?

Es ist ein alter Unfall. Mit vielen Toten, aber ein alter Unfall.

Was sind denn neue Unfälle?

Die echten und schwersten Unfälle heute sind keine Schiffsuntergänge, Flugzeugabstürze oder Eisenbahnunglücke. Sie haben mit der Weltwirtschaft zu tun. Mit der Lichtgeschwindigkeit der Börsennotierungen, mit den Crashs in den asiatischen Ländern, mit den Folgen der weltwirtschaftlichen Deregulierung und der Vernetzung der Märkte. Die Toten in Eschede sind gut sichtbar. Bei einem reinen Medienunfall sind die Opfer nicht sichtbar. Aber sie sind viel zahlreicher, und die Auswirkungen sind genauso groß. Die Arbeitslosigkeit und die Deregulierung in den asiatischen Ländern betreffen Millionen von Menschen.

Warum ist das Interesse an dem ICE-Unfall trotzdem so groß?

Das ist wie im Film. Unfälle sind dank des Fernsehens zu Spektakeln geworden. Das Fernsehen liebt die großen Katastrophen und den Krieg. Denn da ist der Medienerfolg garantiert.