Leben, unzensiert

■ Das revolutionäre Arte-Magazin „Brut“ wird eingestellt, auch Hamburg trauert

Eine ältere Dame trifft sich mit ihren Freundinnen jeden Donnerstag im Strickclub. Während des Strickens erzählt sie, sie habe am Morgen Strumpfhosen gestopft. Ob sich das denn noch lohnen würde, fragt eine Freundin, sie schmeiße ihre einfach weg. Eine andere widerspricht: Das könne bei zwei oder drei kaputten Paaren die Woche aber ganz schön teuer werden. Die Frauen fachsimpeln über Preis, Farbe und, ach ja, wie gut ein bestimmtes Modell die Durchblutung fördert.

Nein, dies ist kein krankenkassengefördertes Infotainment für Rentner, dies ist eine Momentaufnahme aus dem wirklichen Leben. Auf den ersten Blick banal, bei genauem Hinsehen durchaus aufschlußreich. Zu finden sind diese dokumentarischen Fragmente im Arte-Magazin Brut. In der seit Anfang 1996 jeden Freitag um 20 Uhr ausgestrahlten Sendung rückt vermeintlich Nebensächliches in den Mittelpunkt, ein halbes Dutzend dieser Realitätsbruchstücke werden pro Folge aneinandergereiht. Durch ein stilisiertes Fenster blickt der Zuschauer in ganz unterschiedliche Welten. Nach dem beschaulichen Plausch der Damen zum Beispiel öffnet sich ein weiteres Fenster, und plötzlich befindet sich das Publikum in Kamerun, inmitten der Taufe der achtjährigen Lola.

Auch das ist möglich: das Team der Tagesschau einige Minuten lang wichtiger zu nehmen als seine Informationen – die Machart der Spiegel-Reportage bedeutsamer als ihre Publikums-Reißer. Durch kleine Geschichten und Situationen, an denen der Zuschauer normalerweise nicht teilnimmt, eröffnet Brut einen anderen Blick auf die Welt: kritisch und am kleinsten Detail interessiert. Auf klassische Montageformen wird verzichtet, auf ausschweifende Erklärungen ebenfalls. Unkonventionell, unkommentiert, ungeschnitten präsentiert sich Brut, die Reflexion nimmt dem Betrachter keiner ab. Einen Gegenpol bildet die fest verankerte Rubrik „Reporter“. Hier leitet der Journalist den Zuschauer mit seinem ganz persönlichen Kommentar durch das Bildmaterial seines bereits ausgestrahlten Beitrags. Die Subjektivität jeder Bildauswahl wird deutlich. Mit Worten der Macher: ein „Anti-Brut-Moment“.

Die Themen zu Alltag und Arbeit, Gesellschaft und Politik entspringen dem Rohmaterial von gesendeten Reportagen, Dokumentar- und Industriefilmen oder sind Auftragsarbeiten. Auch von der Hamburger Produktionsfirma die thede stammen Beiträge des halbstündigen Magazins, das Ende dieses Monats eingestellt wird. Im Rahmen der von der thede veranstalteten Reihe „Film & Gespräch“ wird heute im Lichtmeß-Kino die aktuelle Brut-Folge, in der auch Hamburger Beiträge vertreten sind, auf die Leinwand projiziert. Im Anschluß informieren die Herausgeber Claire Doutriaux und Paul Ouzan über Hintergründe und Resonanz ihres Programms und über die Gründe für das Ende. Damit es keine Trauerveranstaltung wird, soll über Alternativen und Perspektiven ähnlich ambitionierten „Fern-Sehens“ nachgedacht werden.

Isabel Gentsch

heute, 19.30 Uhr, Lichtmeß, Gaußstr. 25