Die Mär vom anständigen Nazi

■ „Hamburg in der NS-Zeit“ räumt mit unfrommen Lügen über Hamburgs „Sonderweg“ auf

StAHH, AF 83.74 ist das Archivkürzel für: „Staatsarchiv Hamburg, Aktenfaszikel 83, Unterabschnitt 74“. In der „Übersetzung“ von Michael Zimmermann, Historiker an der Alten Synagoge in Essen, lautet AF 83.74: „In Hamburg wurden am frühen Morgen des 16. Mai 1940 etwa 550 Sinti und Roma von sechs Kommandos der Kriminalpolizei festgenommen.“

Aus einer Fülle derartiger Einzelbelege haben zehn Historiker und Historikerinnen den Band Hamburg in der NS-Zeit erstellt und in der Reihe Forum Zeitgeschichte des Ergebnisse-Verlags veröffentlicht. Die „Übersetzertätigkeit“ der Autoren und Autorinnen beschränkt sich aber nicht nur auf die seelenlose Aktensprache des NS-Regimes. Auch die Fachsprache der Historikerzunft erfährt im Vorwort der Herausgeber Frank Bajohr und Joachim Szodrzynski griffige Aufhellung: “Defizite der empirischen Forschung“ werden schlicht als „Antifaschismus der großen Pose und der kleinen Kenntnisse“ erkannt.

Und selbst ein Wortungetüm wie „kumultative Radikalisierungstendenzen polykratischer Kompetenzanarchie“ wird bildhaft, wenn man es dem Porträt von Hamburgs „Führer“ Karl Kaufmann zuordnet. Der NSDAP-Gauleiter, Reichsstatthalter, Chef der Staats- und Gemeindeverwaltung, Reichskommissar für die Seeschiffahrt usw. usf., war ob seiner Ämterfülle zwar in der Lage, sich den Duvenstedter Brook als persönliche Residenz zu verschaffen, bekam aber andererseits nicht einmal die Auschmückung einer Straße für den Empfang Hitlers auf die Reihe. Der nach 1945 gern gepflegten Mär vom „anständigen Nazi Kaufmann“ setzt Frank Bajohr schlicht eine Zeugenaussage über Kaufmanns Anwesenheit bei Folterungen im KZ Fuhlsbüttel und seine „Anregung zum Abtransport der Juden“ vom September 1941 entgegen.

Mit der Legende von Hamburgs bürgerlich-liberalem „Sonderweg“ zwischen 1933 und 1945, so weisen die Autoren und Autorinnen nach, ersparten sich nicht nur Hamburgs Eliten jede „kritische Selbstbesinnung“ nach der „Stunde Null“. Die unfromme Lüge verhalf auch Karl Kaufmann und selbst Hamburgs Gestapo-Chef Bruno Streckenbach zu einem Lebensabend „in bürgerlicher Wohlanständigkeit, ohne sich je vor einem deutschen Gericht verantworten zu müssen“.

Die klassische großbürgerlich- intellektuelle – natürlich vollkommen „unpolitische“ – Wetterfahne porträtiert Joist Grolle am Beispiel des Hamburg-Historikers und Direktors des Staatsarchivs Heinrich Reinicke. Wo in dessen Hamburgischer Stadtgeschichte 1925 noch Menschen „wendischer Abkunft keine Bürger werden konnten“, waren in der Neuausgabe von 1933 „Wenden als rassisch minderwertig nicht zugelassen“. Nicht ohne kollegiale Teilnahme vermerkt Grolle Reinickes verzweifelten Versuch, nach 1945 seinem Hauptwerk noch einmal eine dritte, diesmal „bleibende Kontur“ zu geben.

Zu Grolles Eröffnungsbeitrag sei der vorletzte Aufsatz des Bandes als vorgezogene Parallellektüre empfohlen: Reiner Lehbergers biographische Annäherung an „Jürgen Schmidt, Junglehrer an der Schule Tieloh-Süd 1933-1939“, an sechs quälende Jahre zwischen Widerwillen und Anpassung.

Die These vom „Nationalsozialismus als Normalität eines kapitalistischen Entwicklungsursprungs“, wie sie vor allem Karl-Heinz Roth in den 70er Jahren vertrat, setzen die Autoren von Hamburg in der NS-Zeit ihre detailschürfenden Studien über die Struktur der NS-Wirklichkleit entgegen. So verfolgt Tobias Mulot die Arbeiter- und Betriebspolitik anhand der nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation auf dem Weg in die „Leistungsgemeinschaft der Deutschen Arbeitsfront“, während Uwe Lohalm die “völkische Leistungsgemeinschaft“ untersucht, jene Ungeheuerlichkeit der „erbbiologischen Durchdringung“ der Hamburger Fürsorgepolitik.

Die beiden Frauen unter den zehn Autoren haben ihr Augenmerk auf die Opfer gerichtet. Beate Meyer legt eine Sammlung von Lebenszeugnissen „jüdisch Versippter, Geltungs- und Halbjuden“ vor. Ein um so dringlicherer Beitrag, als diese „Davongekommenen“, so die Autorin, „es nach 1945 vermieden, ihre Verfolgung zu thematisieren, die vor der schwerwiegenderen der Eltern verblaßte“.

Friederike Littmann schildert die Existenzbedingungen jener 80 000 Männer und Frauen, die als ausländische Zwangsarbeiter die deutsche Kriegswirtschaft stützen mußten. Littmanns Recherchen münden in einer grausigen Ironie: Für die Hamburger ging ihre Stadt in den „Bombennächten“ unter, den Zwangsarbeitern dagegen bot die zerbombte Stadt „eine Subkultur, die ihnen zumindest das Überleben ermöglichte“.

Heinz-Günter Hollein

Frank Bajohr / Joachim Szodrzynski (Hrsg.) – Hamburg in der NS-Zeit, Ergebnisse Verlag, 309 S., 48 DM