Abgasarm und reizend

■ Lübecks autofreies Wochenende erregt die Gemüter / Die hansestädtische Wirtschaft ist schon seit sieben Jahren dagegen Von Kristine Krüger

Für die einen ist es ein „großer Schritt nach vorn“, für die anderen die „absolute Fehlplanung“: Wer am Samstag oder Sonntag Lübecks historische Altstadt besuchen möchte, der muß auf sein Auto verzichten. Was derzeit nur für's Wochenende gilt, soll in einem Jahr tagtägliche Realität werden: Die Lübecker Bürgerschaft beschloß Ende Juni endgültig die autofreie Zone „im gesamten Altstadtkern“ an allen Wochentagen.

Vollkommen autofrei? „Ein wenig verwässert ist der Beschluß schon“, gibt Senatssprecher Matthias Erz zu. Schließlich gelte das Fahrverbot lediglich zwischen zehn und 18 Uhr. Immerhin, so tröstet sich Erz, habe Lübeck in puncto Autofreiheit das „weitreichendste Konzept in ganz Deutschland“. Rettungs- und Lieferfahrzeuge, Linienbusse, Taxen, Behinderten-Fahrzeuge, Gäste, die in Innenstadthotels wohnen, und Anwohner haben übrigens auch weiterhin freie Fahrt.

„In Lübeck wird Verkehr künftig nur noch nachts stattfinden“, kommentierte der Sprecher der CDU-Minderheitsfraktion bitter den Sperrbeschluß – CDU und Statt-Partei hatten sich gegen SPD und Bündnis90/Die Grünen nicht durchsetzen können. Im Verbund mit der Mehrheit der Lübecker Unternehmer nahm man klagend „Abschied vom Wirtschaftsstandort Lübeck“, die Statt-Partei erkannte auf „Autofeindlichkeit“ und blickte schaudernd ins frisch geschaufelte „Grab der Stadt“.

Daran wurde schon seit längerem gebuddelt. Als am 7. Oktober 1989 der erste von vorerst sechs „autofreien“ langen Samstagen ins Leben gerufen wurde, gab es zwar viele positive Stimmen von Bürgern und Besuchern Lübecks, die die neue Wohn-, Besuchs- und Einkaufsstadt zu schätzen wußten. Doch vor allem die Geschäftsleute wehrten sich gegen diese Form des abgasfreien Sonnabends. Sie fürchteten einen Umsatzrückgang und forderten statt „autofrei“ den Bau von weiteren Parkmöglichkeiten rund um Lübeck.

Dennoch beschloß die Lübecker Bürgerschaft im Februar 1990, den Großversuch „autofreie“ Innenstadt am ersten Samstag des Monats bis zum Juni 1990 zu verlängern. Begründet wurde dieser halbherzige Vorstoß damit, daß durch die Grenzöffnung und den Ansturm der DDR-Bürger das Material für eine endgültige Bewertung noch nicht ausreiche. Das fand auch die CDU, die die Altstadt-Sperrung so lange auf Eis legen wollte, bis in Zusammenarbeit mit den Geschäftsleuten eine für alle befriedigende, gut durchdachte Lösung des Problems gefunden würde. Dessen ungeachtet verabschiedete die Bürgerschaft im Mai 1990 einen Stufenplan, der sich an den Großversuch „autofreier“ Samstag anschließen sollte. 1. Schritt: Sperrung an allen Wochenenden; 2. Schritt: Sperrung an allen Wochentagen. Am 7./8. Juli war es dann soweit: Die Hansestadt Lübeck erlebte ihr erstes „autofreies Wochenende“.

Seither sind Maßnahmen getroffen worden, um die City Schritt für Schritt vom Verkehr zu befreien. So wurden extra Busspuren eingerichtet, die die Fahrbahnen für Pkws verengen, den Bussen aber weitgehend freie Fahrt bieten. Parkplätze rund um die historische Altstadt wurden befestigt und mit Parkscheinautomaten versehen – Parkgebühr bis zu zwei Mark pro halbe Stunde. Der Öffentliche Personennahverkehr erweiterte die Fahrtstrecken der Busse. Als jüngste Initiative hat ein Lübecker Computerkaufmann in dieser Woche den Prototyp eines Pfand-Fahrrads vorgestellt, das ab Juli 1996 Radeln zum Nulltarif ermöglichen soll. 500 Zweiräder, mit Vollgummireifen und als „Ersatzteillager nicht zu gebrauchen“, können an verschiedenen Plätzen mit einem Fünfmarkstück ausgelöst werden – Prinzip Einkaufswagen. Finanziert werden soll das private Unternehmen durch den Verkauf von Werbeflächen an den Rädern.

Aber ist die „autofreie“ Innenstadt „wirklich ein großer Gewinn“, wie es in einem Faltblatt der Bauverwaltung und der Stadtwerke zu Lübeck propagiert wird? Die Anwohner der Nebenstraßen der Altstadt klagen schon jetzt über das erhebliche Mehr an Verkehr, das ihnen durch die City-Sperrung zuteil wird. Und Lübecks Gewerbetreibende, die bereits 1993 in einem Positionspapier „verkehrslenkende und -führende Maßnahmen“ statt Altstadt-Sperrung gefordert hatten, haben inzwischen – vom Steuerberater beglaubigt – ihre Umsatzeinbußen dokumentiert. Dazu gehört Andreas Zdrenke, Besitzer des „Hotels am Mühlenteich“. Zwei Drittel der Laufgäste, auf die sein kleines Hotel angewiesen sei, seien durch die ,autofreie Innenstadt' weggeblieben, zieht er seine traurige Bilanz. Und das, obwohl Bausenator Dr. Volker Zahn (SPD) in einem Radio-Interview die Zusage gemacht hätte, „daß die Stadt sich sofort etwas anderes überlegt, wenn die Umsatzeinbußen belegt werden. Dies ist jetzt ungefähr acht Monate her, und passiert ist nichts“. Auch Dagmar Jensen, die in der City arbeitet, kann sich mit dem „autofreien“ Konzept nicht anfreunden: „Ich glaube, daß Arbeitsplatzkürzungen vorgenommen werden. Viele unserer Kunden gehen schon auf der ,grünen Wiese' einkaufen.“

In diesem Tenor ist auch eine Studie gehalten, die das „Lübeck-Management“, ein freiwilliger Zusammenschluß von Gewerbetreibenden, im Juni präsentierte. Die Lübecker City liege zwar von der Einkaufsatmosphäre her an der Spitze, bei der Einkaufsqualität jedoch deutlich hinter Bad Schwartau, Hamburg und Kiel. Viele Kunden seien bereits in die Nachbargemeinden zu citynahen und gebührenfreien Parkplätzen abgewandert. „Zwangsmaßnahmen wie Sperrung sind in keiner Weise akzeptabel“, bringt Hans-Rüdiger Asche, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Lübeck, die Sicht der „Lübecker Wirtschaft“ auf den Punkt. „Die Entlastung der Lübecker Altstadt vom Autoverkehr“ sei zwar „allgemein akzeptiert“, konzediert der Kammer-Präses, jedoch: Die Innenstadt als „Wohnort, City und Weltkulturgut“ müsse „erreichbar sein“. Der Handel habe deshalb sein „Konzept ,Autofreiheit durch Vernunft' der ,autofreien' Altstadt entgegengestellt“.

Damit verkennt er 80 Prozent der LübeckerInnen. So viele nämlich, fand die Fachhochschule Heilbronn 1992 in einer von der Hansestadt in Auftrag gegebenen Umfrage heraus, befürworten die Innenstadt-Sperrung. In einer Anfang April '95 einberufenen Einwohnerversammlung – gekommen waren etwa 500 der 116.000 EinwohnerInnen – sprach sich eine „überwältigende Mehrheit“ (Senatssprecher Erz) für die Sperrung aus.

„Wir sehen die verkehrsberuhigte Innenstadt eher als Gewinn für unsere Kunden“, sagt denn auch Manfred Langpap, Firmensprecher eines großen technischen Kaufhauses in der City. „Für uns ist es eine fußgängerfreundliche Innenstadt.“ Ben Grudda, der erst kürzlich in einer Gasse der Altstadt das Lübecker „Hanfkontor“ eröffnet hat, ist von der Sperrung rundum begeistert. Angst, daß ihm die Kunden wegbleiben könnten, hat er nicht: „Das ist schließlich der einzige Laden dieser Art in Lübeck.“

Auch für Karin Pries ist die „autofreie“ City kein Grund, Lübeck fern zu bleiben: „Ich komme sogar aus Bad Oldesloe zum Einkaufen hierher und denke, daß andere Bürger auch weiterhin der Hansestadt treu bleiben werden.“ Antonelle Romeo verweist auf Turin, wo die City-Sperrung schließlich auch funktioniere. „Es ist doch für Fußgänger und Fahrradfahrer wunderbar ohne Autos“, schwärmt die Italienerin.

Daß immerhin die ökologische Richtung stimmt, wurde Lübeck übrigens bereits im September 1990 bestätigt: Die Zeitschrift Vital verlieh der Hansestadt für ihren Großversuch „autofreie“ Innenstadt einen Umweltpreis.