Der institutionalisierte Rostocker

■ Hinweis auf die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „Mittelweg 36“

Ein wenig steil mutet die These schon an, die Brigitta Nedelmann in ihrem Beitrag „Schwierigkeiten soziologischer Gewaltanalyse“ in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Mittelweg 36 schreibt. Für sie ist klar, daß es nichts geändert hätte, „wenn wir Deutschen gewußt und gesehen hätten, was in den Konzentrationslagern und Tötungsfabriken des Nationalsozialismus passiert ist.“ „Wir“ Deutschen hätten, so Brigitta Nedelmann, weiter zugeschaut und keinen Widerstand geleistet.

Mag sein. Problematisch ist jedoch die Herleitung. Nedelmann gelten die Rostocker Ereignisse, bei denen die Zuschauer applaudierten, als vietnamesische Gastarbeiter beinahe in ihren Unterkünften verbrannt wären, als Indiz für ihre These. Vor allem aber steht dafür die heutige Form der Fernsehkultur ein, in der sich die Zuschauer allabendlich von Horrormeldungen aus der ganzen Welt berieseln lassen, ohne aktiv einzuschreiten: „. . . der Fernsehzuschauer ist der allabendlich wiederkehrende Rostocker, der nicht nur weiß, welche Greuel in der Welt verübt werden, sondern zuschauend passiv verharrt oder Greueltaten . . . lustvoll konsumiert.“ Da weiß man nicht recht, ob das nun gut gesehen ist oder die intelligenteste Form der Faschismus-Verharmlosung, die man bisher gelesen hat.

Zuzustimmen ist Nedelmann auf jeden Fall insofern, als die gegenwärtigen Modelle, die Gewalt nur in Täter-Opfer-Relationen denken, zu erweitern sind. Die Stelle des Dritten, des Beobachters, der die Gewalt fördert oder nicht verhindert, ist miteinzubeziehen. Außerdem plädiert Nedelmann dafür, bei der Analyse von Gewalt nicht hinter den Stand zurückzufallen, den Gewalt nicht nur in ihrer Brutalität, sondern auch in ihrer Perfidie erreichen kann. Auch da kann man nur zustimmen – auch wenn es praktisch eine ganze Reihe von Schwierigkeiten bereitete. Denn man müßte den aktuellen Stand von Gewalt zunächst kennenlernen, was heißen könnte, sich zum Komplizen zu machen. Ein Problem, um das Brigitta Nedelmann weiß.

Gewalt, damit haben wir das Stichwort, das sich wie ein roter Faden durch die Arbeit des Hamburger Instituts für Sozialforschung zieht – und auch durch die aktuelle Ausgabe der vom Institut herausgegebenen Zeitung. Ekkehard Lippert informiert über die in Deutschland jämmerliche Lage der soziologischen Forschung über die in der Bundeswehr institutionalisierte Gewalt. Ulrike Ackermann greift die deutsch-französischen Intellektuellendebatten über die sich vollziehende Gewalt in Bosnien auf. Auch der Blick auf die Pressereaktionen anläßlich der Aktivitäten des Instituts gehört hierher: 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kümmerte man sich ja vor allem um die Destruktivitätsgeschichte dieses Jahrhunderts.

Zudem steht in der seit der vergangenen Ausgabe neuaufgenommenen regelmäßigen Literaturbeilage noch mancherlei, diesesmal etwa Informatives über ein Unternehmen, das sich selbst als unzeitgemäß begreift: über den ersten Band des von Wolfgang Fritz Haug im Hamburger Argument-Verlag herausgegebenen Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus. Dirk Knipphals

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