Subversives Element in deutschen Wäldern

Er mag Pommes, Pizza, Süßes. Irgendwie menschlich, so ein Waschbär. Jäger und Naturschützer aber möchten den Einwanderer aus Amerika am liebsten loswerden. Dabei wäre es Zeit, sich an ihn zu gewöhnen  ■ Von Heide Platen

Keiner mag Waschbären. Im Frankfurter Zoo ist er abgeschafft. Im Forstamt Fasanerie Stadtwald „haben wir – Gott sei Dank! – keine“, freuen sich die Forstleute. Fett ist er, faul und unverschämt. Ein richtiger Opportunist. Und damit hatten die Menschen schon immer ihre Probleme. Zu ähnlich ist er ihnen, dieser Allesfresser, Müllkippenräuber, Papierkorbplünderer, Eierdieb. Da hängt er vollgefressen in einer Astgabel und läßt sich die Morgensonne auf den Pelz brennen, ehe er schlafen geht. Nachts war er auf Achse.

Nun baumeln der buschige, braunweiß geringelte Schwanz und die Pfoten schlaff nach unten, die blanken Knopfaugen sind fest zugekniffen. Raccoon, Kratzhändchen, indianisch „aroughcun“, „der mit den Händen kratzt“, verdaut flauschig vor sich hin. Im dreieckigen Gesicht unter den runden Teddyohren trägt er die schwarze Banditenmaske, weiß abgesetzt wie das spitze Schnäuzchen.

Der Neuweltler in Europa ist ein Einwanderer aus Nordamerika. Er gehört zur Familie der Kleinbären – erdgeschichtlich sehr viel älter als die der Großbären. Der Waschbär, zoologisch korrekt Procyon lotor, hat sich seit siebzig Jahren auch in den Wäldern der alten Welt häuslich eingerichtet. Schon daheim hatte er sich an fast alle Gegebenheiten gut angepaßt und variiert mit 25 Unterarten, darunter auch Winzlinge, die sich auf den Inseln vor Florida und Mexiko ausgebreitet haben, und die mittelamerikanischen Krabbenwaschbären. Procyon lotor aber ist überall auf dem nordamerikanischen Kontinent zuhause, von den tropischen Mangrovenwäldern bis zu den Halbwüsten, von den Sümpfen Floridas bis nach Kanada.

Als Kulturfolger siedelt er in Parks, Vorstädten und auf Campingplätzen. Hauptsache, er hat Höhlen, Verstecke und einen Zugang zum Wasser. Er frißt so ziemlich alles: Insekten, Schnecken, Würmer, Alligatoreneier, kleine Fische und Vögel, Obst, Beeren, Nüsse. Das gefällt den Menschen einerseits, weil Procyon lotor angeblich in seinen Revieren gründlich mit Wander- und Bisamratten aufräumt. Andererseits mißfällt es ihnen, daß er auch Pizza und Pommes, Mais, Süßkartoffeln, junges Zuckerrohr und Obst frißt.

Da, wo es warm ist, futtert er sich das ganze Jahr über durch. In kalten Gegenden frißt er sich im Herbst eine dicke Speckschicht an, von der er in der Winterruhe zehrt.

Trotz seines Namens – der Waschbär wäscht nicht. Er tastet. So „suchgreift“ er sich seine Nahrung zusammen, statt sich anzuschleichen oder gar zu jagen. Das sieht sehr komisch aus, wenn er mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern, den Blick wie abwesend in die Ferne gerichtet, im Wasser herumkramt. Oder wenn er sein Futter in den Händen herumrollt, um dessen Beschaffenheit zu prüfen und es dann gründlich beschnuppert.

Der Waschbär ist vorsichtig: Alles wird genau untersucht und erst dann langsam durchgekaut. Waschende Waschbären in den Zoos und Tiergehegen sind arme Viecher, Tiere, die den Instinkt, das Herumsuchen nach Nahrung, im Trinknapf oder Wassertümpel als Übersprunghandlung simulieren, um gestaute Energie abzubauen. In freier Wildbahn wäscht kein Waschbär.

Ausgewachsene Waschbären sind wehrhaft und haben kaum Feinde, außer den Menschen. Amerikanische Pelzjäger fingen im vergangenen Jahrhundert jährlich eine Million Tiere. Waschbärfarmen, in Europa in den zwanziger und dreißiger Jahren entstanden, waren nicht die beste Geschäftsidee – der Import der Felle war billiger. Die dichten Pelze wurden zu Mänteln, Kragen und Autodecken verarbeitet. Waschbärfelle waren Wohlstandssymbol und Währung. 1788 wurden Parlamentarier mit ihnen entlohnt: pro Sitzungstag drei Felle.

Die Jagd auf Waschbären ist ein schwieriges, nächtliches Unterfangen. In den USA ist sie Volkssport: „Im Herbst durchstreifen die Jäger mit einer Meute abgerichteter Hunde, die Coon hounds genannt werden, die nächtlichen Wälder... Ein alter Waschbär versteht es, die Jagd lange hinauszuziehen und seine Haut teuer zu verkaufen“, schrieb Grzimek in seinem „Tierleben“. Er trickst, läuft auf der eigenen Spur zurück, wechselt springend von Baum zu Baum und versucht, durch das Wasser zu entkommen: Hier erweist sich ein Waschbär jedem Hund überlegen, indem er dessen Kopf unter das Wasser drückt und ihn so ertränkt. Auch mit Laternen läßt sich das nachtaktive Tier nicht aufstöbern. Es kneift seine im Licht reflektierenden Augen fest zu und preßt sich flach an einen Baumstamm, unsichtbar für die Jäger.

Die ersten freilebenden Waschbären in Europa waren 1929 Flüchtlinge aus einer Tierfarm in der Eifel. Sie verschwanden spurlos. Erfolgreicher waren vier Tiere, die 1934 in Oberhessen am Edersee von einem Förster ausgesetzt wurden, um die einheimische Fauna zu bereichern. Sie lösten heftige Diskussionen aus. Carl Hagenbeck warnte vor dem Schaden, Jäger an der Ahr hielten die Tiere für nützlich. „Sie leben hauptsächlich von Schnecken, Käfern und so, sonst von Waldfrüchten“, sagt die Biologin Walburga Lutz.

Die Tiere jedenfalls gediehen prächtig und breiteten sich nach Norden und Süden aus. Gleiches gilt für eine Gruppe, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in Strausberg bei Berlin ausrückte. Dazu kamen Einzelexemplare, die als Maskottchen der US-amerikanischen Armee eingereist waren. Schätzungen gehen mittlerweile von über 100.000 Tieren aus, die sich bis in die Niederlande, die Schweiz und Frankreich verbreitet haben.

In den letzten zehn Jahren schrieen Jäger und Naturschützer gleichermaßen Zeter und Mordio gegen den kleinen Kerl. Die einen sahen in ihm eine Gefahr für das Niederwild, andere fanden ihn als Jagdbeute enttäuschend – tags gar nicht, nachts kaum zu sehen. Daß das reinliche Tier mit festen Kotplätzen auch auf Hochsitze kackt, machte ihn nicht beliebter. Jäger und Bauern verfolgen ihn als „schlimmen Nesträuber“, als Raubzeug und Ernteschädling. Puritanische Naturschützer wollen den Fremdling, Verfälscher der Fauna und Feind bedrohter Arten, ebenfalls wieder verschwinden sehen. Beide empfehlen die Jagd mit möglichst phantasievoll beköderten Fallen. Erst Honigbrot, dann Kopfschuß.

Ulf Hohmann, Biologe am Institut für Wildbiologie und Jagdkunde in Göttingen, findet „diese Fragen überholt“. Der Waschbär gelte seit 1980 auch offiziell als einheimische Art: „Er gehört dazu. Den kriegen wir nicht mehr weg.“ Hohmann möchte aber „beide Seiten ernst nehmen“. Sicher sei, daß Waschbären in Vogelpopulationen Schaden anrichten, wenn sie Nistkästen ausräumen. Natürliche, für den Räuber schwer zugängliche Baumhöhlen gibt es halt kaum noch: „Er macht auf unsere Sünden aufmerksam.“ Denn er lernt schnell. Und räumt ab, wenn zum Beispiel „an jedem fünften Baum am Wegrand in zwei Meter Höhe nach Osten ein Nistkasten hängt: Im natürlichen Eichenwald müßte er auf tausend Ästen suchen. Das läßt er gleich sein.“ Und geht lieber ins Mais- oder ins Erdbeerfeld.

Daß sich Waschbären zu einem guten Drittel und mehr, je nach Angebot, von Pflanzen ernähren, hatte Walburga Lutz schon 1981 herausgefunden. Das zweite Drittel besteht vor allem aus Kleingetier – Insekten, Käfern, Larven, Würmern. Der Rest wies den Waschbären als mäßigen Mäusefänger aus und im Winter weniger als Jäger denn als Sammler. Lutz stellte fest, „daß eine unmittelbare Gefährdung anderer Tierarten durch den Waschbären, sei es als Nahrungskonkurrent oder als Raubtier, nicht gegeben zu sein scheint“.

Tricks bei der Nahrungssuche lernen junge Waschbären von ihren Eltern. Und in Gefangenschaft von den Verhaltensforschern, die ihre Manipulierbarkeit bestaunen. US-amerikanische Wissenschaftler bauten eine Kiste, deren Deckel durch Scharniere befestigt war. Die wiederum wurde mit Futter beködert. Das hungrige Tier mußte eine auf 24 anwachsende Zahl von miteinander in Verbindung stehenden Stabverschlüssen drücken, stoßen, heben, verschieben oder herausziehen, um den Deckel zu öffnen und zum Futter zu gelangen. Der Waschbär schaffte es. Solche Fähigkeiten registrieren die Menschen mit gemischten Gefühlen: Respekt, aber auch Mißtrauen.

Ulf Hohmann hat das Sozialverhalten der Waschbären im niedersächsischen Südsolling erforscht. Und das ist, stellte er fest, weitaus weniger einzelgängerisch als angenommen. Der Biologe entdeckte Waschbärweibchen, die in Gruppen mit ihren Töchtern zusammenleben. Und, weitaus überraschender, Männchengruppen: „Die sind die allersozialsten Tiere.“ Die Männchen seien überhaupt „sehr viel netter“ als die Weibchen: Die nämlich würden leicht zickig.

Ähnliche Beobachtungen gelangen in letzter Zeit auch in der Waschbärheimat Texas. Dort wurden Gruppen mit bis zu fünf Männchen beobachtet. Im Solling sind es meist zwei, nicht verwandt und nicht verschwägert, die miteinander umherziehen. Homann vermutet – nach langem „Rätselraten“ –, daß ihr Zusammenleben nichts mit Vorteilen beim Nahrungserwerb zu tun hat, sondern als Verbesserung der Reproduktionschancen für die einzelnen Männchen zu deuten ist. Die leben meist in größeren Revieren, die sich mit denen von vier oder fünf Weibchen überschneiden. Und all die Waschbärinnen werden im Februar ranzig, also empfängnisbereit. Das ist Streß. Hohmann: „Das rechnet sich nicht für einen allein. Gemeinsam sind sie stärker.“

Waschbären sind in den USA beliebte Haustiere. Ein Trend, der auch in Deutschland auszumachen ist und von Biologen mit Sorge gesehen wird. Hohmann: „Waschbären sind Wildtiere!“ Sie können in Menschenobhut bis zu 22 Jahre alt werden. Zahme Waschbären sind stubenrein und gelten als „drollig, anschmiegsam, neugierig, unternehmungslustig und sehr zerstörungsfreudig“.

Auch Pelztierzüchter sind des Lobes voll: „Er riecht nicht, hält sich sehr sauber und ist ein ruhiger und liebenswerter Geselle“, schreibt Eberhard Hagemann. Und so „treten zu dem materiellen Gewinn die Freude an einem lebhaften, drolligen und sympathischen Tier“. Zudem seien sie bei Fütterung mit allerlei Abfällen „rentabel“ und „ein ausgezeichnet schmeckender, wildbretartiger Braten, der allgemein als Delikatesse gilt“, lobt Pelzhändler Hagemann weiter.

Walburga Lutz zieht ihr Fazit auch ohne Kochtopf: „Es ist müßig, zu fragen, ob die Einbürgerung zu begrüßen ist oder zu verurteilen war, nachdem nahezu das gesamte Gebiet der Bundesrepublik besiedelt ist.“ Rückgängig sei da nichts mehr zu machen: „Wir sollten deshalb mit dem Waschbären leben wollen.“