Trottel, Schafe und der Wechsel

Das Motto des Christopher-Street-Day 1998 heißt: „Für den Wechsel“. Ja, dürfen die das? Mordskrach um parteipolitische Instrumentalisierung und Heuchelei  ■ Von Silke Mertins

„Jedes Problem erlaubt zwei Standpunkte: unseren eigenen und den falschen“, wußte schon der amerikanische Dramatiker Channing Pollock. Und auf politische Parteien trifft diese Aussage ganz besonders zu. Entsprechend aufgeregt reagierte ein Teil der Gay Community zu Hamburg, als die OrganisatorInnen des Christopher-Street-Day (CSD) den diesjährigen schwulesbischen Feiertag unter das Motto „Sichtbar, stark und stolz – für den Wechsel“ stellten. Wechsel? Eine parteipolitische Festlegung, ein Plädoyer für Rot-grün, mitten im Bundestagswahlkampf? Ja, dürfen die das?

Auf keinen Fall, empört sich das Schwulenblatt hinnerk. Da stelle sich doch die Frage, „ob dieser Entscheidung das richtige Verständnis vom CSD zugrunde liegt“, heißt es im Editorial. „Schließlich sollte die Pride-Woche eine tolerante und vielgestaltige Angelegenheit sein.“ Der Leitspruch aber schließe politisch Andersdenkende aus: „Der ganze CSD für SPD und Grüne?“

Die Kritik sei kein Wunder, schnaubt der schwule GAL-Abgeordnete und Mitglied des CSD-Organisationsvereins Farid Müller. Die hinnerk-Redaktion sei schließlich von FDPlern unterwandert. „Ich sehe das Motto nicht als eine Instrumentalisierung, sondern als eine legitime Einmischung“, so der Grüne. Und an hinnerk schreibt er: „Die Frage, ob nun CDU- oder FDP-Schwule und -Lesben oder einfach nur Partyhasen möglicherweise mit so einem Motto verschreckt werden, läßt vermuten, daß Euch wohl der politische Aspekt beim CSD eher stört als interessiert.“ Was habe die christliberale Bundesregierung in den vergangenen 16 Jahren denn schon für Deutschlands Homos getan?

Den politischen Sympathiewerten nach zu urteilen, liegen die CSD-OrganisatorInnen im Trend. 85 Prozent der Lesben und Schwulen wählen SPD oder GAL. Das ergab die Auswertung von 500 Fragebögen, die die Schwusos (schwule und lesbische SPDlerInnen) 1996 veröffentlichten. Im einzelnen sprachen sich 45,7 Prozent der Homos für die Grünen und 39,7 Prozent für die SPD aus. Mit dem Aufwind der Opposition auf Bundesebene dürften die Zahlen sogar noch gestiegen sein.

Trotz dieser eindeutigen Vorlieben der lesbischwulen Community ließ das Wechsel-Motto die Wellen der Empörung hochschlagen. Man könne nur hoffen, heißt es in einem Leserbrief, daß Hamburgs Homos der Parade fernblieben, „anstatt wie Schafe mit abgeschaltetem Verstand durch die Stadt hinterherzutrotten“. Ein anderer ist überzeugt, daß „jeder mündige Schwule, der sich nicht als Trottel für Parteien mißbrauchen lassen will“, den Paradentag aus seinem Terminkalender streicht.

Die Angegriffenen sind nicht minder handgreiflich in Ton und Wortwahl. CSD-Organisator Bernd Stolle hält politische Neutralität für „Selbstbetrug“. Der hin-nerk vertrete eine „irritierende Position“. Und er sei es im übrigen „leid, in den Wald hinein zu fordern“. Wie lange er sich von der CDU denn noch den Spruch „Wir sind noch nicht soweit“ anhören solle?

Man könne dem CSD doch wohl nicht „ernsthaft übelnehmen“, politisch zu sein, grimmt der Grüne Thomas Mohr. „Soll das Motto des CSD etwa ,piep, piep, piep – wir haben uns alle lieb' heißen?“ Wenn CDU- oder FDP-AnhängerInnen „keine Lust“ auf Wechsel hätten, „dann sollen sie einfach zu Hause bleiben. Es wird sie keiner vermissen“. Die Retourkutsche per Leserbrief folgte auf dem Fuße. Thomas Mohr wolle unbedingt ein politisches Motto? „Wie wäre es denn mit ,Schwule gegen den Benzinpreis'?“

In Zurückhaltung übt sich indes Schwuso und Bürgerschaftsabgeordneter Lutz Kretschmann. „Nicht sensibel“ sei die politische Festlegung des CSD. „Andere auszugrenzen finde ich nicht gut, denn das können wir uns gar nicht erlauben.“ Tatsächlich bestätigten sich Kretschmanns Befürchtungen. Die CDU sagte erbost ab. „Mit großem Bedauern“ nimmt der CDU-Abgeordnete Heino Vahldieck „das diesjährige Motto zur Kenntnis“. Es stoße all jene vor den Kopf, die sich „nicht vor den rot-grünen Karren spannen lassen wollen“. Im vorigen Jahr nahmen die ChristdemokratInnen am Straßenfest teil. „Trotz der teilweise massiven Mißfallensbekun-dungen“ – Vahldiecks Rede ging im Pfeifkonzert unter – „habe ich es für wichtig gehalten, die politische Pluralität dieser Veranstaltung zu wahren.“

Auch die FDP war anfangs sauer, besann sich aber dann eines besseren. Der liberale Bundestagskandidat Martin Woestmeyer sah zuerst seine „Feierlaune getrübt“, hat aber seinen eigenen Zugang zum CSD-Leitspruch gefunden: „Mit dem Motto kann nur der politische Wechsel in Hamburg gemeint sein.“

Die organisierten Lesben haben indes ganz andere Probleme mit dem CSD-Organisationsteam und dem Motto. „Selbst meine diplomatischen Nerven haben die gemischten Plena kaum ausgehalten“, so Andrea Gottlieb von der „Frauenkneipe“ mit Blick auf das vergangene Jahr. Die Schwulen tendierten dazu, Politik als „spaßfrei“ zu betrachten. Und dann der Streit, ob das CSD-Straßenfest nicht einmal im Quartier der Lesben, dem Schanzenviertel, oder schon wieder nahe dem der Schwulen, am Jungfernstieg, unweit St. Georgs, stattfinden solle.

Das Wechsel-Motto finde sie im übrigen „komplett albern“. Denn „ich definiere meine Homosexualität nicht über eine Partei“. Deshalb gelte es, das Thema mittels des Parade-Wagens der Frauenkneipe mit wechselhaften Eigeninterpretationen anzureichern, etwa mit „Wildwechsel, Wechseljahre oder auch Wechselgeld“.