Mon Dieu Mondial
: Morbus Kwiat geht um

■ Der schlechte Ruf der Torhüterzunft steht bei der WM in Frankreich auf dem Spiel

„Marokko hat ein kleines Torwartproblem“, untertrieb ZDFs Thomas Wark in Montpellier. Das Problem ist für die Nordafrikaner vermutlich turniergefährdend. Der notorische Ballabklatscher Driss Benzekri hatte gegen die norwegischen Rammböcke bei Standardsituationen keine Chance. Noch in der letzten Woche wurde ein wenig kühn die neue Reputierlichkeit des allerletzten Mannes behauptet. In Wahrheit klagen nicht nur die Marokkaner, sondern auch andere WM-Teams über gravierende personelle Defizite auf der Linie.

Norbert SEITZ

Sein Spieler: Mark Overmars (auf Außen wie ein Klassiker)

Sein Team: Holland (wenn Rijkaard multikulturell schlichtet)

Sein Weltmeister: England (weil in der Ausnüchterungszelle)

Tägl. WM-Konsum: ca. 6 Std.

Morbus Kwiat nennt man ansteckende Torwartprobleme bei Weltmeisterschaften, benannt nach dem legendären Heini Kwiatkowski aus dem Kohlenpott, der einst bei nur zwei WM- Einsätzen ganze 14 Tore kassierte. In der Bundesliga kennt man auch das Reck-Fieber oder Golz-Syndrom.

Im WM-Eröffnungsspiel sah Schottlands alte Eiche Leighton beim brasilianischen Siegtor deutlich älter als 39 aus. Claudio Taffarel im gegnerischen Tor brachte es sogar als Einäugiger unter lauter blinden Konkurrenten zum Rekordinternationalen. Nach der Legende Gilmar gebar Brasiliens Torwartherrlichkeit nur noch leibhafte Sicherheitsrisiken.

Auch die Argies sind mit ihren auserwählten Goalies nicht sehr glücklich. Kein Fillol oder Goycoechea in Sicht, der 1990 beim Elferschießen Gastgeber Italien ins Tal der Tränen schickte. Die Kolumbianer sind mit ihrem Unterhaltungskünstler Higuita ihr Sicherheitsproblem im Kasten nicht losgeworden, während sich im mexikanischen Tor noch immer ein kleines aufgeblasenes Männlein namens Campos wichtig tut. Vor allem Gastgeber Frankreich hat seit jeher ein Torwartproblem. Mit einem Paradiesvogel wie Lama werde man normalerweise nicht Weltmeister, meinen selbst Einheimische. Als Ettori beim 82er Krimi von Sevilla gegen die Derwall-Deutschen das Nachsehen hatte, haderten die Franzosen so sehr mit seiner Körpergröße, daß Präsident Mitterrand als Trostspender intervenieren mußte.

Der deutsche Torwartverdruß ist eher aus vergangenen Tagen. Die beiden Tonis – Turek und Schumacher – leisteten sich anno '54 und '86 unglaubliche Finalschnitzer, die zu frühen Rückständen führten. Turek wurde rasch nach dem Berner Wunder von Herberger entzaubert, wie danach auch Tilkowski, dem zunächst der 21jährige Fahrian vorgezogen wurde, ehe er beim dritten Tor von Wembley anno '66 wenigstens froh sein durfte, daß Hursts Ball unhaltbar war. Schumacher degenerierte in Spanien '82 zur deutschen Bestie, während Illgner in den USA '94 seinem wohlwollenden Trainer ehelichen Ärger bescherte und zurücktrat. Dagegen wird Köpke neben Bierhoff als bester deutscher Akteur im Frankreich-Aufgebot gehandelt.

Gute WM-Torleute waren in der Regel Briten (Banks, Shilton), Iren (Jennings), Russen (Jaschin, Dassajew) oder „Jugos“ (Beara, Soskic, Maric). Die alten wie Köpke (36) oder Zubizarreta (37) gelten heute als die zuverlässigen Zerberi. Das war aber nicht immer so. '78 in Argentinien, als Arie Haan mit Distanzgeschossen Maier (34) und Zoff (38) verlud, diskutierte man angestrengt über nachlassende Reaktionsfähigkeiten, als ginge es um Alkohol am Steuer.

Daß Torleute eigentlich überflüssig seien oder sich zumindest als elfte Feldspieler nützlich machen sollten, ist Johan Cruyffs revolutionäre Auffassung. Deshalb nötigte er '74 Coach Michels, anstelle der etatmäßigen Nr. 1, Piet Schrijvers, den meist weit vor seinem Tor mitagierenden Fliegenfänger Jan Jongbloed ins Team zu nehmen. Noch heute tragen ihm Oranje- Fans Müllers Siegtor im Münchner Finale nach. Zu Unrecht. Norbert Seitz

Autor von „Doppelpässe. Fußball & Politik“, Verlag Eichborn