Totes Rennen auf dem Weg nach Golgatha

■ Zum 125. von Alfred Jarry, Champion der imaginären Speichen

Kennen Sie Jewey Jacobs? Sollten Sie aber. Immerhin ist Jewey Jacobs der erste und einzige Mensch, der je als Toter ein Fahrradrennen gewonnen hat. Und was für eins: das legendäre 10.000-Meilen-Rennen, in dem er gegen einen Eilzug antrat, um zu beweisen, daß der Mensch zumindest auf langen Strecken doch über die größeren Kraftreserven verfügt als die Maschine. Freilich gewann Jewey Jacobs dieses zweifelsfrei härteste, nur einmal ausgetragene Fahrradrennen der Welt nicht als Einzelfahrer, sondern im Team: „Horizontal auf dem Fünfsitzer liegend, gewöhnliches Rennmodell 1920, ohne Führungsstange, Reifen 15 Millimeter, Radentwicklung siebenundfünfzig Meter vierunddreißig“, so fuhr das Fünferteam (neben Jacobs noch Georges Webb, Sammy White, Bill Gilbey und Ted Oxborrow) über eine 10.000-Meilen-Piste, die von Frankreich bis Sibirien (sie wissen schon, die bekannte Strecke Paris– Schwerte–Moskau) parallel zu den Schienen des konkurrierenden „Rapidexpress“ verlief, wenn man der Schilderung des historischen Ereignisses im New York Herald glaubt.

Sollte man aber nicht. Denn der New York Herald ist genauso wie Jewey Jacobs eine Erfindung von Alfred Jarry (1873–1907), dem Begründer des absurden Theaters und Wegbereiter des Surrealismus und Dadaismus. Meist nur als Autor des Skandalstücks „König Ubu“ bekannt, ist er aber auch Initiator der „Pataphysik“, jener Wissenschaft von den imaginären Lösungen, die sich zur Metaphysik verhält wie diese selbst zur Physik, wie der Genius in der ihm eigenen Klarheit postulierte.

Das Rennnen ist also nur Fiktion. Weitsichtige Fiktion allerdings. Denn Anlaß dazu war laut Jarry die Erfindung einer speziellen Sportlernahrung namens Perpetual-Motion-Food, einer toxikologischen Mischung aus Strychnin und Alkohol, deren Wirksamkeit dem Praxistest unterzogen werden sollte und an der der arme Jacobs im Rennverlauf leider das Zeitliche segnete. So ist das halt mit den Nebenwirkungen.

Außerdem muß man bedenken, daß Jarry seinen Zukunftsroman „Le surmÛle“ („Der Supermann“) im Jahre 1902 schrieb, also gut 95 Jahre vor Viagra, als die pharmazeutische Kraftpillenforschung noch in den Kinderschuhen steckte. Unser toter Sieger ist also gewissermaßen ein bedauerlicher Fauxpas der praktischen Forschung. Und so was soll ja auch heute noch vorkommen, wie man an den sechs Sportsfreunden sexueller Hochleistung sieht, die jüngst möglicherweise Opfer der Wunderpille Viagra geworden sind. Hätten sie Jarry gelesen, wäre ihnen die tödliche Selbstüberschätzung vielleicht erspart geblieben. Denn der Dichter, für den Liebesakt und Radfahren erklärtermaßen das gleiche waren, läßt in seinem Roman „Supermann“ nicht nur Jacobs im Sattel sterben, sondern auch den Supermann selbst, den eigentlichen Titelhelden, bei dem Versuch, sexuelle Rekorde zu brechen. So ist das nun mal, wenn der Mensch seine Kräfte für unbegrenzt hält.

Für Jarry jedenfalls, diesen Fahrradnarren aus der Bretagne, hat sich selbst Jesus nicht per pedes, sondern per Pedal nach Golgatha aufgemacht: In seiner Erzählung „Die Passion als ein bergauf führendes Radrennen betrachtet“, kommt es für den Sohn Gottes im Rennen gegen die zwei Schächer (sie wissen schon, die mitverurteilten Diebe) nach anfänglich gutem Start und zwei unbedeutenden Stürzen zu dem „beklagenswerten, uns allen bekannten Zwischenfall“ in der zwölften Runde: „Jesus befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem toten Rennen mit den Dieben. Wir wissen ja, daß er das Rennen als Flieger fortsetzte, aber das gehört bereits zu einer anderen Geschichte.“

Anders als der futuristisch abhebende Gottessohn hat sich sein Schöpfer Alfred Jarry als Radfahrer nicht so schnell von den Widrigkeiten der Strecke unterkriegen lassen: Wenn er im Sommer von Corbeil nach Paris mit dem Fahrrad unterwegs war, benutzte er anstelle der Klingel seinen Revolver, den er gewöhnlich in der Hosentasche trug. Auf kritische Einwände hinsichtlich solches Bahn-frei-Machismos soll er erwidert haben: „Oh, bevor der Bürger sich wieder gefaßt hat, bin ich schon über alle Berge. Indem ich ihm die Illusion verschaffe, überfallen worden zu sein, gebe ich ihm Stoff zu den schönsten Geschichten, die er Freunden und Bekannten erzählen kann.“

In diesem Jahr würde das im damaligen Paris stadtbekannte Enfant terrible seinen 125. Geburtstag feiern, so er denn nicht das Zeitliche gesegnet hätte. Und dann würde ihm zu Ehren heuer bestimmt ein riesiger Fahrradkorso quer durch die Stadt rollen und auf dem Champs-Elysées statt dem profanen Pulk um Jan Ullrich & Co. im Triumphzug der Massen seinen Höhepunkt finden.

Aber warum eigentlich Paris? Für literarisch gebildete Radfreaks liegt das wahre Mekka in diesem Jahr natürlich nicht am Arc de Triomphe, sondern in Laval, der bretonischen Geburtsstadt des Champions der imaginären Speichen. Statt also die realen Triumphe der Fahrradhelden zu feiern, sollte man lieber gleich in das kleine gallische Dorf durchstarten, dessen unbeugsame Bürger sich bis heute standhaft... Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Friedwart Maria & Stefan Rudel

Alfred Jarrys Roman „Der Supermann“ wird bald im Gerhardt- Verlag, Berlin, neu aufgelegt