■ Kosovo: Wie viele Protektorate will sich der Westen leisten?
: Europäische Nabelschau

Gäbe es kein Fernsehen, dann müßte die geeignete Reaktion auf die Krise im Kosovo auch öffentlich vor allem unter sicherheits- und machtpolitischen Gesichtspunkten erörtert werden. Aber es gibt das Fernsehen, und Bilder sprechen Gefühle an. So können Politiker den Eindruck erwecken, die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo seien der einzige Grund für einen möglichen Einsatz der Nato gegen Jugoslawien. Die Heuchelei ist schwer erträglich.

Krisen haben Konjunktur, und sie kommen auch aus der Mode. Algerien, Irak, Somalia, Kambodscha, Ruanda und Sudan sind nur einige Beispiele dafür. In keinem dieser Länder werden die Menschenrechte beachtet. Die Zahl der Todesopfer ist dort mindestens so hoch wie im Kosovo. Ginge es den Nato-Ministern nur darum, Unrecht entgegenzutreten, dann müßte das Militärbündnis schleunigst Luftangriffe gegen den eigenen Verbündeten Türkei fliegen.

Nun läßt sich argumentieren, es sei immer noch besser, wenigstens einige Menschenleben im Kosovo zu retten, als mit Verweis auf andere Konflikte untätig zu bleiben. Einverstanden. Aber wenn demokratische Staaten einen Angriffskrieg führen wollen – und um nichts anderes handelt es sich bei den von der Nato jetzt erwogenen Maßnahmen –, dann müssen sie wenigstens die Gründe dafür redlich benennen.

Der Kampf gegen Massaker im Kosovo ist ein Nebenkriegsschauplatz. Es geht der Allianz darum, in einer für Europa insgesamt schwierigen Phase Ruhe auf dem Balkan zu schaffen, und den reicheren Ländern des Kontinents darum, einen neuen Flüchtlingsstrom über ihre Grenzen zu verhindern. Das Handeln eines Militärbündnisses wird stärker von politischen Interessen als von der Menschenrechtscharta bestimmt. Das ist nicht zu ändern. Aber damit werden auch Interessengegensätze unausweichlich.

Die Zustimmung des Weltsicherheitsrats zu einem Nato-Einsatz im Kosovo ist nicht leicht zu erlangen. Die westliche Allianz ist eben kein verlängerter Arm der Vereinten Nationen. Russische und chinesische Bedenken gegen eine Stärkung des Militärbündnisses werden mit jedem neuen Einsatz wachsen. Peking und Moskau befürchten ja zu Recht, daß im Zuge des Bedeutungsverlusts der Vereinten Nationen auch ihre Macht immer mehr schwindet.

Es muß nicht gleich der Kampf der Kulturen bemüht werden, um in einer Marginalisierung der nicht- westlichen Welt eine große Gefahr zu sehen. Unterstellt, der Kosovo wird zu einem Schutzgebiet, wie es Bosnien heute faktisch schon ist: für wie viele Protektorate wird die Nato bereit sein, die Verantwortung zu übernehmen? Einsätze kosten sehr viel Geld. Je teurer der Frieden in Europa wird, desto geringer wird die Bereitschaft der Industriestaaten, sich andernorts zu engagieren. Die Lage im Grenzgebiet zwischen Eritrea und Äthiopien – war da was? Auf die Dauer werden Konflikte in anderen Teilen der Welt für die Industriestaaten nicht folgenlos bleiben, wie nicht nur die Atomversuche in Indien und Pakistan befürchten lassen. Eine Institution, die als Korrektiv wirken kann und gleichzeitig weltweit anerkannt ist, wird dringend gebraucht.

Die Nato kann diese Institution nicht sein. Wahr ist aber auch, daß die UNO heute in ihrem desolaten Zustand die ihr zugedachte Rolle nicht ausfüllen kann. Um so dringlicher muß sie deshalb reformiert werden. Die Forderung danach wird aber allenfalls als Lippenbekenntnis laut. Diejenigen, die fälschlicherweise glauben, über die Macht zu verfügen, haben keinerlei Interesse an einer Stärkung der UNO.

Der Eindruck verstärkt sich, daß manche deutschen Politiker derart kleingeistig auf den eigenen Wahlkampf fixiert sind, daß sie die Brisanz der Situation nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Bislang hatten Kritiker von Nato-Einsätzen in Krisengebieten keinen Grund, ausgerechnet Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) eine möglichst lange Amtszeit zu wünschen. Das hat sich geändert. Wenn SPD-Politiker auf Gefühle eingehen, die sie beim Wahlvolk vermuten, gibt es offenbar kein Halten mehr.

Rühe besteht wenigstens auf einem UNO-Mandat für die Nato. SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder meint dagegen, es gehe notfalls auch ohne. Ein Mann der Tat, fürwahr. Und die Bündnisgrünen sollen ein Sicherheitsrisiko sein, weil angeblich kein Verlaß auf ihre Vertragstreue ist? Bettina Gaus