Seit gestern morgen verkehren auf der Brenner-Autobahn zwischen Österreich und Italien nur mehr Radfahrer und Fußgänger. Bis heute nachmittag demonstrieren Tiroler beider Nationen für die Beibehaltung des Nachtfahrverbots für schwere Lkws. Vom Brenner Ralf Leonhard

Die Alpen: Mehr als nur ein Korridor

„Für meine Kinder und Enkelkinder bin ich hier.“ Die pensionierte Fernfahrerin Hermine Seitner weiß, wovon sie spricht, wenn sie sich für die Beibehaltung des Wochenendfahrverbots für schwere Lkws einsetzt. Die Österreicherin, die 15 Jahre lang für ein Tiroler Transportunternehmen alle möglichen Güter zwischen Deutschland und Italien über den Brenner beförderte, hat wenig Verständnis für die Spediteurslobby, die Slogans wie „Verkehr ist Leben“, „Für Sie unterwegs“ oder „Eine florierende Transportwirtschaft ist ein Zeichen für wirtschaftlichen Aufschwung“ auf die Lkw-Planen kleben läßt.

Schon jetzt hat die Zunahme des Schwerverkehrs in Innsbruck für unerträgliche Zustände gesorgt. „Jedesmal, wenn die Autobahn wegen eines Unfalls gesperrt wird, gibt es in Innsbruck kein Weiterkommen.“ Wenn Frau Seitner ihre beiden Enkel in die Schule bringt, braucht sie dann für eine Strecke von normalerweise zehn Minuten anderthalb bis zwei Stunden. Das passiert fast jede Woche. Auch die Luft in der Tiroler Landeshauptstadt wird immer schlechter. „Wennscht aufn Berg steigscht, siehscht die Glockn über der Stadt.“ Asthma und andere Erkrankungen der Atemwege sollen zugenommen haben.

Seit gestern morgen, 11 Uhr, dürfen auf der Brenner-Autobahn nur mehr Radfahrer verkehren – bis heute, Punkt 15 Uhr. Das Alpenpanorama rund um die 900 Meter hoch gelegene Mautstelle Schönberg, 10 Kilometer südlich von Innsbruck, versteckt sich hinter einer dichten Wolkenwand. Wenn der beharrliche kalte Nieselregen nicht etwas auf die Stimmung drücken würde, könnte man meinen, in die Vorbereitung eines Volksfestes geraten zu sein.

Während auf der einen Autobahnspur die Bühne für die Konzerte der Gruppe „Bluatschink“ und die Ansprachen der Politiker errichtet wird, bläst eine Gruppe des Alpenvereins eine Hüpfburg für die Kinder auf und errichtet eine Kletterwand für zukünftige Bergsteiger. „Ein Tritt für den Transit“ wünscht sich eine Gruppe auf ihrem Transparent. Eine andere nutzt den Auflauf für eine Demonstration gegen das Multilaterale Investitionsschutzabkommen (MAI).

Eine Südtiroler Schützenkompanie in Lederhosen, roten Jacken und Tirolerhut sorgt für etwas Farbe auf der grauen Autobahn. Als Hauptquartier der Veranstalter dient die McDonald's-Filiale, wo die Logistik zusammenläuft und Modem-Anschlüsse für die Journalisten aus Österreich, Deutschland und Italien gelegt wurden.

Nach einer vor wenigen Tagen in 21 Städten und 9 Bundesländern Deutschlands erhobenen Umfrage des Market Instituts in Linz wünschen sich 76 Prozent der potentiellen Urlauber die Beibehaltung des Samstagfahrverbots für schwere Lkws. 38 Prozent würden Tirol meiden oder großräumig umfahren. Ander Haas, der Präsident der Tiroler Tourismusvereinigung und Obmann des Talverbands Stubaital, sieht auf Tirol eine Katastrophe zukommen, wenn der Schwerverkehr nicht eigedämmt wird. Schuld sei unter anderem die unverantwortliche Subventionspolitik der EU, die zu sinnlosen Fahrten geradezu einlade. So wurde ein niederländischer Spediteur entdeckt, der ein und dieselbe Schrottladung viermal zwischen Bremen und Sizilien hin- und hertransportiert hatte. Auch ein inländischer Transporteur habe Zuckerlieferungen zwischen Österreich und Italien pendeln lassen, um in beiden Ländern die Exportsubventionen zu kassieren.

In Tirol stehen 78 Prozent der Bevölkerung hinter der Blockade. Auch Landeshauptmann Wendelin Weingartner ließ es sich nicht nehmen, auf die Tribüne zu klettern und zu verkünden, daß die Fortsetzung der EU-Verkehrspolitik niemandem nütze: „Wir sehen nicht ein, warum es in sensiblen Räumen nicht Ausnahmeregelungen geben soll.“ Darauf einer der Veranstalter: „So ein Affenkopf, manche Leute glauben das auch.“ Der Landeschef, der wegen seiner Umfaller auch Wendelin Wendehals genannt wird, hatte vor dem EU-Beitritt versprochen, daß Tirol keine Nachteile zu erwarten hätte.

Die Brenner-Blockade wird von Solidaritätsaktionen in Vorarlberg begleitet. Auch die Tauernautobahn A10 in Salzburg wird seit gestern blockiert. Allerdings nur in südlicher Fahrtrichtung und nur 15 Minuten zu allen vollen Stunden. Mehr als hundert Organisationen und Gemeinden auf beiden Seiten des Brenner-Passes unterstützen die Aktion. Organisator Fritz Gurgiser freut sich vor allem über die zahlreich eingetroffenen Delegationen aus Südtirol/Italien: „Noch nie hat es eine Versammlung gegeben, wo Nord- und Südtirol so dabei sind.“

Grenzüberschreitend sind auch die Proteste gegen den Protest. Der in Frankfurt am Main ansässige Bundesverband Gütervekehr und Logistik e.V. (BGL) appellierte gemeinsam mit dem Fachverband für das Güterbeförderungsgewerbe Österreich (AISÖ) an die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck und die Tiroler Sicherheitsdirektion, die Brenner- Blockade in letzter Minute noch zu verbieten. Die Spediteursverbände machten die Behörden darauf aufmerksam, daß sie ihre Mitgliedsunternehmen bei Schadenersatzforderungen, auch gegenüber der öffentlichen Hand, unterstützen würden. Sie haben ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das in der Blockade einen Verstoß gegen das österreichische Versammlungsgesetz und den EU-Vertrag sieht.

Für den grünen Europaabgeordneten Johannes Voggenhuber ist das Unsinn. Rechtsbruch sei die Nichteinhaltung des Transitvertrags und der in der Alpenkonvention vorgesehenen Verkehrsbeschränkungen. Die vor zehn Jahren versprochene Entlastung der Autobahnen durch die Eisenbahn hat sich als Flop erwiesen. Kein Zufall, meint Fritz Gurgiser: „Während der Straßenverkehr modernisiert wird, arbeitet die Eisenbahn wie noch vor hundert Jahren.“ Statt eine durchgehende Eisenbahnfrachtverbindung von Rotterdam nach Genua zu schaffen, hätten die Planer die Huckepack-Übergangslösung in den Alpen zur Dauerlösung gemacht.