Der Bürger der Initiative

Gesichter der Großstadt: Seit 25 Jahren sorgt der Architekt Norbert Rheinlaender dafür, daß die Autobahn „Westtangente“ von Schöneberg nach Moabit nicht gebaut wird  ■ Von Hannes Koch

Die Musikkassetten in der Ecke des Regals bergen ernste Töne. Viel Klassik gibt es da, aber auch Liedermacher wie Hermann van Veen. Bundesbahnzüge kriechen langsam als Bildschirmschoner über den Computer. Vor dem Erdgeschoßfenster des Architekturbüros schiebt sich ein Auto über das Kopfsteinpflaster – und bleibt nach ein paar Metern stecken. Dort ist die automobile Welt erst einmal zu Ende. Verkehrsberuhigung: Poller, Blumenkübel, Kinder spielen auf der ehemaligen Kreuzung. Die Crellestraße in Schöneberg symbolisiert das gemütliche, alternative Berlin der 80er Jahre, das Bürgerinitiativen der Großstadt abtrotzten – eine idyllische Insel, drumherum lärmt der Verkehr.

Die Umgestaltung der Straße ist ein „Nebenprodukt“ seiner Arbeit als Architekt. Die Hälfte seines Lebens, 25 Jahre, hat Rheinlaender dem Kampf gegen die Autobahn geopfert. 1973 gründete er mit anderen die Bürgerinitiative Westtangente, die bis heute den Bau der Stadtautobahn von Schöneberg durch den Tiergarten bis Moabit verhindert. Unweit seines Büros verläuft die brachliegende Trasse. Damit ist Rheinlaender der Inspirator einer der erfolgsreichsten Initiativen der Republik: An ihm scheiterten neben der Westtangente auch die damit zusammenhängenden Schneisen durch Kreuzberg und andere Stadtteile und damit ein Großteil der West- Berliner Asphaltplanung.

Als die NachfolgerInnen der StudentInnenbewegung zu Beginn der 70er Jahre historisch-materialistische Flugblätter unter das Proletariat brachten, war Rheinlaender, gerade von Hannover nach Berlin gezogen, ein Exot. Von CDU-Plänen angestachelt, eine gigantische Straßenbrücke in der Nähe seiner Wohngemeinschaft zu errichten, keimte in ihm postmaterialistisches Bewußtsein. Zerstörungen durch den Autoverkehr, schlechte Wohnverhältnisse: Norbert Rheinlaender sah darin im Gegensatz zu den agitierenden K-Gruppen den Ansatzpunkt, „konkrete Verbesserungen im Alltag durchzusetzen“. Daß das Auto im wesentlichen ein Übel darstelle, war ihm, der nie eines besaß, schon vorher klar geworden. „Der Insassen fahren in einer Isolierzelle“, weil sie sich mit der Außenwelt nicht verständigen könnten – das Auto als Kommunikationsstörung.

Was dann kam, war der Aufstieg einer belächelten Weltanschauung zur politischen Meinungsführerschaft. Mit Lobbyarbeit – 1974 trat Rheinlaender der SPD bei und 1980 wegen der Nato- Raketen wieder aus –, Tausenden von Arbeitsstunden, Demonstrationen, Veranstaltungen und Broschüren gelang es der Bürgerinitiative, ihr Anliegen bis in die Spitzen der Politik zu bringen. Unter ihrem Bürgermeisterkandidaten Jochen Vogel klebte die ehemalige Beton- SPD 1981 Plakate mit dem eindeutigen „Nein zur Westtangente.“

Rheinlaender lebt heute unweit des Kottbusser Tors – in einem Haus, das die Kahlschlag-Politik beinahe hinweggefegt hätte. Die zwölf BewohnerInnen besitzen das Gebäude gemeinsam: Rheinlaender hat seinen Lebensmittelpunkt damit so gestaltet, wie es seinen Idealen entspricht. Auch als Architekt zeichnet er gerne Pläne für „Großgruppen“.

Eine geglückte Verbindung von Politik, Privatem und Profession? Nicht ganz. Im Kampf um die Inseln der Lebensqualität ist der berufliche Erfolg auf der Strecke geblieben. „Die Leute kennen mich als Aktivist, aber nicht als Architekt.“ Nur 1.500 Mark netto pro Monat blieben ihm 1997, hat der Steuerberater ausgerechnet. An die großen Aufträge kommt der Autobahngegner nicht heran, das meiste ist Kleinkram. „Vielleicht müßte ich mehr Klinken putzen“, sinniert Rheinlaender. „Vielleicht bin ich auch zu bescheiden.“ Das könnte einer der Gründe sein, warum ihn sein Engagement bislang nicht für die Grünen ins Abgeordnetenhaus gehievt hat – im Gegensatz zu vielen, die weniger vorweisen können als er.

Der Mann lacht selten. Was die Westtangente angeht, gibt es seit dem Anschluß der DDR dafür auch keinen Anlaß. Offiziell hat die Große Koalition sie zwar ein für alle Male beerdigt, doch praktisch ist die Hälfte gerade im Bau – als Tiergartentunnel am Potsdamer Platz. Auf diesen Kompromiß hatten sich CDU und SPD geeinigt. Fraglich ist, ob es dabei bleibt. Denn Debis macht Druck, um die geplante Betonpiste über das Gleisdreieck hinüber zum Schöneberger Autobahnanschluß doch noch durchzusetzen. Die 15 bis 20 AktivistInnen der Initiative – seit 25 Jahren findet jeden Donnerstagabend ein Treffen statt – hoffen nun auf einen Wahlerfolg von Sozialdemokraten und Bündnisgrünen.

Derweil frißt der Verkehrswahn Rheinlaenders ruhige Insel an. Wo unweit der Crellestraße neben der S-Bahn beinahe die Bundesgartenschau 1995 entstanden wäre, wurden gerade die Bäume gefällt – für die Schnellstrecke der Bahn.