Nigeria bleibt ein Rätsel

Nach dem hochdramatischen 3:2-Sieg gegen Spanien sind alle internen Schwierigkeiten beim unberechenbaren afrikanischen Team zweitrangig – erst einmal  ■ Aus Nantes Ralf Mittmann

Jay-Jay Okocha setzt sein breitestes Grinsen auf. Wie das denn gewesen sei mit der Meuterei gegen Trainer Bora Milutinović, als deren Anführer sein Name die Runde gemacht habe? „Ein Trainerwechsel“, sagt Okocha, „das hätte doch alles nur schlimmer gemacht.“ Und damit ist für ihn das Thema auch durch. Der Serbe ist nach wie vor Trainer der nigerianischen Nationalmannschaft, er, Okocha, hat entgegen der Meldung, er sei suspendiert worden, gespielt, und außerdem hat Nigeria 3:2 gegen Spanien gewonnen. Okocha und der Rest der schwarzafrikanischen Delegation ist erst einmal mit Jubeln beschäftigt. Kein Wort davon, ob der nach dem Tod des Diktators Sani Abacha zum neuen Machthaber ernannte General Abdulsalam Abubakar tatsächlich den Befehl gegeben hat, an Milutinović festzuhalten. Kein Wort davon, ob es zutrifft, daß er die Ausmusterung des „Rebellen-Anführers“ Okocha empfohlen hat. Schweigen, Grinsen, Feiern.

Auch Milutinović trägt nichts bei zur Aufklärung. Er hatte sich noch in der Sekunde des Abpfiffes schnurstracks aus dem Stadion Beujoire entfernt und taucht wenig später in weißer Landestracht auf. Als er hereintritt in den Lichtkegel der Scheinwerfer, geraten die nigerianischen Medienvertreter, die zuvor schon den kleinen Raum mit lautstarken Gesängen erfüllt und Ringelreihen getanzt hatten, völlig aus dem Häuschen. „Bora, Bora“, skandieren sie. Milutinović spricht von Stolz und Freude und von „unglaublichen Gefühlen für das gesamte nigerianische Volk“. Überwältigt sei er und könne deshalb mehr nicht sagen. „Bora, Bora“, schreien die nigerianischen Reporter, die gleichen Männer, die zuvor seine schärfsten Widersacher waren. Eine Erklärung hätte man schon gerne gehabt, wie es zu der plötzlichen Wandlung des nigerianischen Teams kommen konnte. 0:1 in Deutschland, 0:4 bei Grashoppers Zürich, 0:3 in Jugoslawien, und zuletzt 1:5 in Holland waren die Testspiele vor der WM verloren worden – und nun ein Sieg gegen Spanien?

Eine einleuchtende Erklärung gibt es nicht von nigerianischer Seite. Okocha auf die Frage, wie es passieren könne, daß sie vor sieben Tagen noch 1:5 in Holland deklassiert wurden und nun 3:2 gegen Spanien gewinnen: „Das eine war ein Testspiel, das andere ein WM- Spiel.“ Und die Schlappen vor der WM habe man im übrigen einkalkuliert. „Da war ein bißchen Absicht dabei“, sagt er, „damit die Erwartungen der Leute zu Hause nicht zu groß werden. Nur so hoch wollten wir nicht gerade verlieren.“

Das klingt fast schon wieder ein wenig hochnäsig, aber Okocha ist eben nach feiern zumute. Das gibt mildernde Umstände. Einen solch starken Eindruck, daß sie nach Lust und Laune unterscheiden können zwischen Gaudi und Ernstfall, und daß somit der Erfolg gegen Spanien zwingend zustande kam, hatten die Nigerianer nun doch nicht hinterlassen. Hätte Raúl all seine Chancen genutzt und einmal statt gegen die Latte ins Tor getroffen, und hätte Torwart- Oldie Zubizarreta nicht einen harmlosen Schuß Lawals in den eigenen Kasten gelenkt, der Sieger in Nantes hätte auch Spanien heißen können.

Das nigerianische Rätsel scheint noch nicht gelöst. Mehr dazu nächsten Freitag in Paris. Dann ist wieder Ernstfall für Okocha & Co. Und der Gegner Bulgarien. Ein Außenseiter... Ralf Mittmann