Fünf Freunde müßt ihr sein

Die Rolling Stones haben ihre Deutschland-Tour in Nürnberg begonnen. 90.000 Menschen auf dem Zeppelinfeld können zwar nicht irren, aber wie zu den Randale-Zeiten während der Sixties ist es auch nicht mehr  ■ Von Albrecht Metzger

Ein riesiger grauer Vorhang bauscht sich im Wind. Er verdeckt die Bühne, die in ihren Ausläufern 80 Meter breit ist und auf der in wenigen Minuten die Hölle losbrechen wird. So zumindest erhoffen es die über 90.000 Fans, die seit Stunden geduldig auf ihre Helden warten: die Rolling Stones.

Es gibt Mythen, die gehören zur Grundausstattung des Lebens, die Stones tragen diesen Mythos nun seit 35 Jahren von Tour zu Tour, von Platte zu Platte. Auf dem Zeppelinfeld in Nürnberg starten sie an diesem Samstag abend den europäischen Teil ihrer „Bridges to Babylon“ Tour, sieben weitere Konzerte in Deutschland werden folgen. Der Tour-Start in Berlin mußte verschoben werden, da Keith Richards in seiner Bibliothek von der Leiter fiel, als er sich ein Buch holen wollte. Süffisante Kommentare lassen sich in der Frage zusammenfassen: Welche Bibliothek, welches Buch?

Jetzt ist Keith wieder gesund, und die Show kann losgehen. In den ersten zehn Jahren ihrer beispiellosen Karriere war ein Stones- Konzert regelmäßig der Auslöser für Aufruhr, Chaos und Gewalt. Damals gelang es den Stones nur selten, eine Show auch zu Ende zu bringen, die entfesselten Fans wollten es anders und randalierten. Die Band hielt sich stoisch an den Instrumenten fest, Jagger sang tapfer weiter und hüpfte dabei wie ein Derwisch über die Bühne, die Fans stürmten die Bühne und die Bullen schlugen drauf. Selten gelangte ein Konzert hinter die Schallgrenze von siebzehn Minuten. Dann floh die Band von der Bühne, sprang in den kleinen Tourbus, raste zum nächsten Gig und dort begann der Irrsinn wieder von vorn.

An solch herrlich anarchische Zustände ist heute nicht mehr zu denken. Die Faust bleibt in der Tasche, und Aufruhr schauen wir uns lieber im Fernsehen an. Auch den Stones ist es inzwischen lieber, wenn die Dinge geregelt sind, jeder seinen Eintritt bezahlt und alle friedlich nach Hause gehen. Dann plötzlich: Das Fauchen und Brüllen eines Löwen weht über das Zeppelinfeld, 90.000 Fans antworten mit Begrüßungsgebrüll. Der Vorhang geht langsam auf, und Keith Richards reißt das erste Riff aus den Saiten seiner Gitarre: „I can't get no ... Satisfaction!“ Die Hymne aller Suchenden dieser Welt.

Jagger ist gleich auf 100, rennt fuchtelnd auf der Bühne herum und singt die Worte, die jeder Stones-Fan in seinem Herzen trägt. Im oberen Teil der Bühne hängt eine riesige runde Videowand, auf der das Konzert übertragen wird. So erst kann man die Musiker sehen, die sich als winzige Männlein unter ihrem überlebensgroßen Videobild bewegen. Eine groteske Situation: 90.000 Menschen schauen sich ein Live-Konzert an, das zwar vor ihren Augen stattfindet, das sie aber nur auf der Videoleinwand verfolgen können.

Keith spielt sein erstes Solo, die obligate Kippe hängt lässig im Mundwinkel. Ron Wood auf der anderen Seite der Bühne spielt gelassen den Rhythmus, die Zigarette hängt noch lässiger. Jagger spurtet zum ersten Mal seine 60 Meter, wie er es an diesem Abend noch oft tun wird. Der Song ist beinahe durch, aber der Sound steht noch nicht. Jagger verbeugt sich mit einem Joker und sagt in weichem gebrochenen Deutsch: „Guten Abend, es ist schön, hier zu sein!“, dann geht die Band in „Let's spend the night together“, ein Kleinod aus den frühen 60er Jahren, mit dem sie in den USA einen Skandal verursachten. Auf der Videowand ist die Show in Schwarzweiß zu sehen, mit dem Firnis eines alten Filmes überzogen.

Der Sound steht immer noch nicht. Jaggers Stimme klingt matt, das Zusammenspiel der beiden Gitarren ist nur entfernt zu erahnen, das Schlagzeug zu laut. Die Stimmung im Publikum schwankt zwischen Verwunderung und Abwarten. Es ist ja nichts ungewöhnliches, daß bei jeder normalen Band die ersten drei Nummern für den definitiven Soundcheck genutzt werden. Die Stones sind aber keine normale Band, sie sind einmalig, professionell und authentisch. Dieses Image wird von ihrer Medienmaschine seit Jahren produziert.

Dann passiert es: Mitten in „Gimme shelter“, einem der grandiosen Stücke von Keith Richards von 1969, klickt es plötzlich – und die Band ist zusammen. Charlie Watts schlägt sein Schlagzeug pulsierend und federnd, so wie nur er es kann, Derryl Hall am Bass groovt mit, die beiden Gitarristen haben sich gefunden und weben symbiotisch am pochenden Puls dieses dunklen Stücks, das in einer der finstersten Phasen der Stones geschrieben wurde. Am 3. Juli 1969 lag Brian Jones tot im Swimmingpool seines Hauses. Aus der „Let it bleed“-Phase von '69 springen die Stones direkt in die Gegenwart. Diese abrupten Wechsel durchziehen die ganze Show und geben ihr Spannung und Farbe. Bass und Schlagzeug legen den mahlenden Groove von „Nobody's seen my Baby“, dem Hit von 1998, mit dem es die Stones sogar in die Playlists der Teenie-Radios geschafft haben. Illustriert wird die Geschichte, die Jagger erzählt, durch ein Video, in das die Bewegungen der Musiker auf der Bühne live reingeschnitten werden. Der Blick auf die Videowand macht auf die exquisite Lightshow aufmerksam, mit der die pittoreske Bühne in immer neue Stimmungen getaucht wird. Im Laufe des Abends sollte sich die Bühne als der wahre Star der Show herausstellen. Es ist die abgefahrene Bühnenarchitektur von Mark Fisher, einem englischen Künstler, mit dem die Stones seit Jahren zusammenarbeiten. Gemeinsam mit Patric Woodroffe, der das außergewöhnliche Lichtdesign kreiert hat, bringt er in ihrer Größe und Phantasie überwältigende Eindrücke zustande.

Aus „Bridges of Babylon“ von heute geht es zurück zu einem Klassiker von 1974, bei dem auf Platte noch der Gitarrist Mick Taylor zu hören ist, der kurz danach bei den Stones ausgestiegen ist. Diese Flucht soll Keith Richards ja zu dem berüchtigten Satz provoziert haben, daß man die Stones nicht verläßt und wenn, dann mit den Füßen voran.

„It's only Rock'n'Roll“ rollt gut, Jagger rudert mit den Armen, macht die Leute an, Keith Richards liefert ein messerscharfes Solo ab, und zum ersten Mal gehen die Leute richtig mit. Das ist der Sound, das sind die Stones. Die meisten der 90.000 sind jetzt im Sog der Musik, die von Musikern gespielt wird, die z.T. seit 35 Jahren zusammen Musik machen, sich gestritten und immer wieder gefunden haben, die auf ihrer Linie geblieben sind, und dabei zu einer Band wurden, die aus jedem Skandal und aus jedem Streit gestärkt hervorgegangen ist. Dieses Überleben mit den gleichen Mitgliedern ist ihr Verdienst und zeigt die Einmaligkeit dieser Rockband. Die Mehrzahl der Zuschauer heute abend ist zwischen 25 und 40 Jahre alt, d.h. die Band war schon da, als sie in das Stones-Alter kamen. Allerdings gibt es sowohl auf der Bühne als auch im Publikum weißes Haupthaar zu sehen. Veteranen in kleinen Grüppchen, die dezent mit den Zehenspitzen wippen und die heutige Show mit Gelassenheit in die Sammlung ihrer Stones-Konzerte einreihen.

Sie nicken auch gefällig, als die ersten Takte der klassischen Chauvie-Nummer „Under my Thumb“ über die Köpfe der 90.000 schallen. Jagger hat sich schon 1966, als die Platte rauskam, diplomatisch rausgeredet, dieser Song sei nicht so gemeint, wie er ihn singt. Daß er diese Haltung nach 32 Jahren immer noch kultiviert, gehört wohl zum Charakter dieses genialen Bluessängers, der nicht nur ein begnadeter Tänzer, sondern auch ein smarter Businessman ist. Von der Bühne herab fragt uns Jagger auf deutsch, ob wir mitsingen wollen.

Drunter liegt schon der Disco- Groove von „Miss you“, etwas schneller gespielt als auf der Platte, aber live wirkt seine Laszivität noch hypnotischer. Die Backing- Sängerin Lisa Fisher tanzt über die Bühne, Jagger holt sie ab und baggert sie an. Ron Wood gibt ein exquisites Gitarren-Solo dazu, Bobby Keys übernimmt am Saxophon... die Fans sind happy. Ein langer Schwenkarm wird ausgefahren, die Band geht auf einem Steg über das Publikum hinweg zu einer kleinen Bühne, die mitten im Publikum aufgebaut ist. Dort kommen sie, sozusagen „unstripped“, zu ihren Quellen. Keith spielt seinen Chuck Berry, der die Stones wie kein zweiter beeinflußt hat, und den er immer noch verehrt, Charlie Watts spielt diesen unsterblichen, rollenden Rhythmus stoisch, präzise wie eine Maschine. Jagger setzt den frühen Song „Last time“ drauf und mündet schließlich in die Hommage der Rollings Stones an einen anderen Überlebenden, an Bob Dylan.

Wie schon auf der letzten Tour spielen sie „Like a rolling Stone“, das Jagger schließlich mit einem Mundharmonika-Solo veredelt. Die Bühne ist in gespenstisch nachtblaues Licht getaucht, als der magische Samba-Rhythmus von „Sympathy for the Devil“ die Menge erfaßt. Wir müssen zwar auf den schneidenden Anfang von Keith' unsterblichem Solo verzichten, und Jaggers Stimme klingt immer belegter, aber das tut der Magie keinen Abbruch. Zur Klimax wird noch ein Feuerwerk gereicht, was will man mehr. Die Zugabe: Jawoll, „Brown Sugar“. Alle hauen rein, zeigen noch einmal ihre Potenz als R&B-Band, ihre Fähigkeit, für zwei Stunden das Ego zu beurlauben und mit anderen zusammen den Blues zu spüren und zu spielen. Das ist nichts Neues unter der Sonne, aber in diesem Falle ist das Alte gut genug. Der Sound war sicher schon besser, aber als sich die fünf Herren am Schluß vor ihrem Publikum und dann vor ihren Kollegen verneigten, spürte jeder die innere Wahrheit des Satzes: Fünf Freunde müßt ihr sein.

P.S. Als Jagger Keith Richards fragte, welches Buch er denn aus dem Regal holen wollte, als es passierte, antwortete Keith: Leonardo da Vinci, die Anatomie des Körpers. Alles Roger, Keith.