Stadtverwaltung aus dem Kloster

Unter ihrem neuen Bürgermeister Jerry Brown wird die verarmte, verfallene, verödete Stadt Oakland aus einer Kommune von Althippies und Visionären regiert  ■ Aus Oakland Peter Tautfest

Von außen sieht das Gebäude mit der Wellblechverkleidung aus wie eine Lagerhalle, von innen wie ein Bild von Escher mit ewig auf- oder absteigendem Wandelgang – eine Mischung aus Fabrik und Kloster. Die Eingangshalle steigt über drei Stockwerke zu den für Fabrikhallen typischen gestaffelten Dachschrägen an, durch deren Oberlichter der Himmel hereinstürzt. Das Haus steht im Zentrum der Stadt, doch der Weg dorthin führt über Gleisanlagen, aus denen das Gras wächst, und an Fabrikanlagen vorbei, aus deren backsteinernen Mauern sich die Ziegel lösen.

Dies ist das Haus von Jerry Brown, dem Mann, der bei den kalifornischen Vorwahlen am 2.Juni zehn Konkurrenten aus dem Feld schlug und damit noch vor den eigentlichen Wahlen im Herbst zum Bürgermeister von Oakland gewählt ist.

Während Jerry Brown gerade eilig das Haus verläßt, kommt aus dessen Hintergrund ein Mann, der aussieht wie Jerrys Alter ego: Jacques Barzaghi, Ende 50, kahl geschoren und mit schwarzem Hemd und schwarzer Hose angetan – halb Jesuit, halb Yogameister, halb Mao-Look, halb flatternde Hippieseide. Der als Jesuit erzogene Jerry Brown läuft auch immer so rum: kurzgeschorener Kopf, schwarze Hose, schwarzes kragenloses Hemd und – als Konzession an die Kleiderordnung der Politik – ein Jackett.

Seit 28 Jahren arbeitet Jacques Barzaghi für Jerry Brown. Von 1975 bis 1983, als Brown Gouverneur von Kalifornien war, diente ihm Barzaghi als Bürovorsteher. Heute ist er sein Wahlkampfleiter und engster Berater. „Nicht gewinnen ist wichtig, sondern der Macht die Wahrheit ins Antlitz sagen, das sage ich Jerry jeden Tag.“

Hier wohnen drei Familien und sieben Einzelpersonen, zusammen mit vier Kindern. „Ich habe ihm gesagt, dies mag dein Haus sein, aber du bekommst darin nicht mehr Raum als alle anderen.“ Eine Kommune mitten in Oakland, das Zentrum der politischen Organisation Jerry Browns und sehr wahrscheinlich – wenn denn die Vergangenheit des Mannes ein Hinweis auf die Zukunft ist – der eigentliche Amtssitz des neuen Bürgermeisters. In Sacramento hatte er sich als Gouverneur auch geweigert, in die Residenz zu ziehen, und statt dessen in einer billigen Mietwohnung seine Nächte auf Matratzen am Boden verbracht.

Jacques Barzaghi, der noch heute mit französischem Akzent spricht, traf Jerry Brown 1970, nachdem er 1968 das Paris der Studentenrevolte verlassen hatte – etwa zur gleichen Zeit wie Daniel Cohn-Bendit. „Mein Kopf arbeitete noch völlig auf europäischer Wellenlänge, und ich hatte die typischen Vorurteile, die französische Intellektuelle wie Baudrillard oder Edward Behr zu ihren amerikakritischen Tiraden inspirierten.“

In Los Angeles war er an eine Einladung des Innenministeriums gekommen. Eine geschlagene Stunde unterhielt er sich mit einem der Gäste über Trüffel und Godard, Beckett und Plato. Erst später erfuhr er, daß das der Innenminister und spätere Gouverneur Kaliforniens war. „Amerikaner sind Barbaren“, resümiert Barzaghi rückblickend, ihnen fehlen Ästhetik und Kreativität. Jerry Brown hat beides. Er war jemand, mit dem man sich bei einem Gespräch in geistige Abenteuer stürzen konnte. Aber wird sich eine Stadt wie Oakland von einer Gruppe von Althippies aus einer Kommune heraus regieren lassen?

Oakland fehlt der Glamour des nahen San Francisco und der Mythos der Nachbarstadt Berkeley. Wer die Telegraph Avenue hinunterfährt, braucht kein Ortsschild, um den Übergang von Berkeley nach Oakland zu erkennen. Die Straße beginnt zu veröden, Läden und Kaufhäuser stehen leer, der Verkehr wird dünner.

Während auf den Hügeln um Oakland viel Geld in kühnen architektonischen Phantasien mit Blick auf Golden Gate und Bay Bridge residiert, verkam Oaklands Innenstadt zum Synonym für städtischen Verfall, Armut und Verbrechen. Oakland, die Wiege der Black Panther, wurde schwer gebeutelt. 1989 ließ das Erdbeben zusammen mit einigen der alten, renommierten Kaufhäuser in der Stadt den Cypress Freeway einstürzen. Kaum war der Schutt zusammengekehrt, raste die Feuersbrunst von 1991 über die Hügel von Oakland und machte 30.000 Menschen obdachlos.

Beide Ereignisse leiteten eine Wende in der Wahrnehmung Kaliforniens ein. In einer Serie von Artikeln erklärte die New York Times, daß die geologisch junge und instabile Küstenregion durch das Wechselbad aus Dürren und Regenstürzen gleichermaßen von entblößenden Feuersbrünsten, Erdrutschen und Erdbeben bedroht und eigentlich unbewohnbar sei. Erstmals begann die weiße Abwanderung aus Kalifornien, die weiße Zuwanderung zu übertreffen – der Zustrom von Immigranten aus Latein- und Mittelamerika sowie aus China und Korea aber hielt an, und Oaklands Bevölkerung stieg um 50.000 Einwohner auf heute 388.000 an. 43 Prozent der Bevölkerung sind schwarz, 25 Prozent weiß, je 15 Prozent hispanisch und asiatisch.

Was will jemand wie Jerry Brown, der zweimal Gouverneur von Kalifornien war und sich dreimal – wenn auch erfolglos – um die Position des Demokratischen Kandidaten fürs Weiße Haus bewarb, in einer Stadt wie Oakland? Oakland hat seinen Reiz. Margie Tunney verschlug es aus Manhattan beruflich hierher: „New York ist nur zum Schein integriert“, sagt sie, „die Rassen leben räumlich dicht gedrängt, aber getrennt. Oakland ist die einzige Stadt, in der die Rassen und Völker wirklich zusammenleben.“

Joey Fuller hingegen ist in Oakland geboren und zog nach Chicago. Sie kannte das gar nicht: in einem Stadtteil leben, in dem alle Leute schwarz waren wie sie. Erst in Chicago erfuhr sie, wie fremd sich Schwarz und Weiß in den Vereinigten Staaten sind. „Ich bin froh, wieder hierzusein.“

Oakland könnte der Aufstieg bevorstehen. Es grenzt an Silicon Valley, dem der Raum zur Ausdehnung und zum Wohnen fehlt. Hier aber stehen ganze Fabrikhallen leer, und die Mieten sind billig. Oakland hat den bedeutendsten Tiefseehafen zwischen Seattle und Long Beach, und der Flughafen wird ausgebaut. Die legendäre BART, das Nahverkehrssystem der Bay Area, hat allein in Oakland vier Stationen, und das Freeway System hat nach Oakland mehr Abfahrten als nach San Francisco. Oakland hat vor allem eine inzwischen in den USA rare Ressource: Arbeitslose.

Was denen hoch oben auf den Hügeln das Panorama der Bay ist, in der die Sonne wie in einem blendenden Spiegel versinkt, das ist jenen unten im Tal der Blick auf die überlebensgroß strahlende Christusfigur mit negroidem Antlitz. Sie lächelt von der Stirnwand der Presbyterian Church in der 32. Street auf eine schwarz-weiß-braun gemischte Gemeinde herunter. Hier herrscht der Ton des schwarzen Predigers, dessen Gemeinde jeder seiner Feststellungen mit einem „Amen!“ oder „Say it!!“ beantwortet. Und Jerry Browns vorwiegend schwarze Gegenkandidaten verstanden, den Ton dieses Publikums zu treffen. Sie reden von Jesus und seiner Wahrheit in der Politik. Wenn Jerry Brown zu reden anfängt, hört er normalerweise so schnell nicht auf, kann unglaublich weitschweifig sein, zitiert Platos Dialoge, doziert über griechische Demokratie. Vor diesem Publikum allerdings läßt er die Anspielungen auf Plato und die lateinischen Zitate weg.

Reden kann auch er wie ein Racheengel. Lächeln tut er sowieso nie, aber richtig böse kann er werden, wenn er über die Einstellungspraxis in der Stadt spricht. „Von 700 Polizisten, die in Oakland Dienst tun, wohnen ganze 69 in der Stadt. Die gesamte Stadtverwaltung wohnt außerhalb. Jetzt hat man dem Rathaus gegenüber ein Parkhaus gebaut, von dem aus die einpendelnden Angestellten unmittelbar in ihre Büros gehen können, ohne auch nur Oaklander Luft zu atmen. Als der Cypress Freeway nach dem Erdbeben repariert wurde – ein Milliardenprojekt –, wurden ganze sieben Prozent der Arbeitskräfte in Oakland angeheuert. Zwei Drittel derer, die in Oakland arbeiten, wohnen nicht in der Stadt. Das muß aufhören.!“

Die Mehrheit der Schwarzen in dieser mehrheitlich schwarzen Stadt hat ihn ebenso gewählt wie die Mehrheit der Weißen oben auf den Hügeln – und auch die Chinesen und Hispanics haben ihn gewählt. Man verspricht sich von seinem Namen und seinem Renommee nationale und internationale Aufmerksamkeit, und das wird – so hofft man – Kapital anziehen.

In Sacramento hatte Jerry Brown den Beinamen Gouverneur Moonbeam (Gouverneur Mondstrahl), weil er vorschlug, Kalifornien solle seinen eigenen Satelliten in den Weltraum schießen, und während der Dürre eine Regentrommel in seinem Amtszimmer aufstellte. Er rief ein Walfestival ins Leben und verhalf der Farmarbeitergewerkschaft zum Durchbruch.

Ist das Bürgermeisteramt jetzt die nächste Verrücktheit eines Mannes, der nicht weiß, was er mit sich anfangen soll, nachdem er Gouverneur und Präsidentschaftskandidat war, ein Jahr lang in einem Zenkloster lebte und eine Kommune gründete? „Für mich ist das Bürgermeisteramt von Oakland kein Sprungbrett, eher ein Mühlstein am Hals“, antwortet Jerry Brown. Als Gouverneur sei seine Wirkungsmöglichkeit begrenzt gewesen. Eine Stadtverwaltung aber kann richtig zupacken. Als Gouverneur hatte er ein wunderbares Stadterneuerungsprogramm aufgelegt. Jetzt kann er am Beispiel Oaklands die Renaissance einer jener verödeten Downtowns einleiten, die zu den Schandflecken der USA gehören.

Mit seinem eigenen Haus hat er den Anfang gemacht, er ist mitten in die Stadt gezogen und demonstriert dort die Verbindung von Leben und Arbeiten, von Stadt als Wohnraum und Arbeitsplatz. Die ersten Nachahmer hat er schon gefunden. Ateliers und Studios sind in die benachbarten Fabrikgebäude gezogen und beginnen mit deren Restauration.

Dennoch: Wird Oakland sich aus einer Kommune sozialer Visionäre heraus regieren lassen, denen Kibbuz und Volkskommune, Benediktinerregeln und bddhistische Weisheit mehr bedeuten als der American way of life? „Amerikaner dürsten nach Ehrlichkeit“, sagt Jacques Barzaghi, „und nach einem, der die politische Routine durchbricht. Außerdem sind Amerikaner sehr tolerant geworden. Wenn sie ein Weißes Haus aushalten, in dem eine offene Zweierbeziehung regiert, halten sie auch ein Kloster aus, in dem die Liebe zu Mensch und Natur herrscht.“