M — Ein Junge ängstigt eine Stadt

In München erhitzt der „Fall Mehmet“ die Gemüter: Rechtlich gesehen ist der junge Türke noch ein Kind, doch weil er mehr als 60 Delikte auf dem Kerbholz hat, sollen seine Eltern Deutschland verlassen  ■ Aus München Stefan Kuzmany und Niclas Müller

Ein feiner Friseursalon in Schwabing. Im Hintergrund rieselt Wagners „Ritt der Walküren“ die marmorierte Wand hinunter. Die gerade rötlich gefärbte, urlaubsgebräunte Dame in den besten Jahren klappt die Bunte zu und legt die Zeitschrift auf ihre Knie. Ihre Tönung ist noch nicht trocken. Sie möchte jetzt auch etwas zum Thema beitragen. „Also, wenn eine Frau, die 30 Jahre lang hier lebt, nicht die Sprache beherrscht, das ist doch unmöglich. Die hat doch versagt.“ Die Inhaberin des Haarsalons pflichtet ihr bei. Sie selbst stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die Kundin spricht noch weiter: „Natürlich haben die eine schwierige Situation in Neuperlach. Aber es gibt genügend arme Leute dort, die anständig sind, die keine straftätigen Kinder großgezogen haben. Man muß sich doch anpassen.“ Eine Pause entsteht, sie scheint entrüstet zu sein, weil ihr der Kunde auf dem Nachbarstuhl nicht sofort zustimmt.

Ein Junge ängstigt eine Stadt: Noch nicht ganz vierzehn Jahre alt, männlich, in Deutschland geboren, aufgewachsen im Problemstadtteil Neuperlach – und türkischer Abstammung. Dutzende von Delikten hat er sich zuschulden kommen lassen, doch rechtlich gesehen ist er noch ein Kind und somit strafunmündig. „Mehmet“, so hat ihn die Süddeutsche Zeitung genannt, um ihn zu schützen, „Deutschlands kriminellstes Kind“ – so schreibt die Boulevardpresse, damit sich die Leser ängstigen. Glaubt man den Berichten, scheint ein muslimisches Ein-Mann-Terrorkommando nicht nur den Stadtteil Neuperlach zu beherrschen, ganz München befindet sich in seiner Hand. Hans-Peter Uhl (CSU), Chef des Münchener Kreisverwaltungsreferates, will den „Fall Mehmet“ jetzt in einer bundesweit beispiellosen Aktion lösen: Weil sie ihren Sohn nicht unter Kontrolle hätten, sollen Mehmets Eltern Deutschland verlassen – und den Jungen mitnehmen.

„Ich traue ihm einen Mord zu“, läßt sich der CSU-Politiker zitieren. Mehmet, so Uhl in der SZ, sei „stärker als der Staat“. Der Kreisverwaltungsreferent, seit Jahren im Streit mit der rot-grünen Stadtregierung, will sich beruflich verbessern: Im September würde er gerne in den Bundestag gewählt werden. Da muß man den Leuten angst machen – um sogleich die Angst wieder zu nehmen. Ein Dreizehnjähriger gegen den Staat, damit läßt sich Stimmung machen: Nasen brechend, Autos knackend, prügelnd, erpressend – und heute für täglich 280 Mark pädagogische Einzelbehandlung genießend. Dieses Kind ist eine Gefahr und ein Ärgernis, vermittelt Uhl seinen potentiellen Wählern. Und die verstehen seine Worte schon richtig: Der Junge muß verschwinden. Hans-Peter Uhl hat es sich zur Aufgabe gemacht, München von Mehmet zu befreien.

Ein Kind loszuwerden, das ist für den Rechtsstaat Deutschland gar nicht so einfach. Mehmet ist, obwohl ihm über 60 Vergehen angelastet werden, die sich in einem Zeitraum von etwa drei Jahren angehäuft haben, rein strafrechtlich betrachtet nichts vorzuwerfen – sagt jedenfalls sein Anwalt Alexander Eberth. Da er noch keine 14 Jahre alt, also strafunmündig ist, gälten seine Verfehlungen nicht einmal als Straftaten.

Tatsächlich habe Mehmet ein Nasenbein gebrochen, sagt der Anwalt – glaubt man jedoch der Boulevardpresse, hätte Mehmet sich auf Nasenbeinbrüche geradezu „spezialisiert“. Tatsächlich habe er erpreßt und eingebrochen, sein Verhalten sei weder entschuldbar noch zu verharmlosen – dennoch: Es waren bei seinen Schlägereien nie Waffen im Spiel, bei dem Einbruch in ein Jugendzentrum wollten Mehmet und seine Bande „Gummibärchen klauen“, so Eberth, und die „räuberische Erpressung“ läßt sich nach den Worten des Anwalts in zwei Sätzen nacherzählen. „Gib mir deine Mütze, oder ich hau dir eine rein“, habe Mehmet zu einem anderen Jungen gesagt. Der sah den gleichaltrigen, aber körperlich weit überlegenen Dreizehnjährigen und seine Freunde vor sich stehen – und händigte die Mütze aus.

Mehmet soll in die Türkei verbannt werden – in ein Land, das er nur aus dem Urlaub kennt. Um dieses Ziel zu erreichen, hat sich das Münchner Kreisverwaltungsreferat eine abenteuerliche Vorgehensweise ausgedacht. Der Junge gefährde die öffentliche Ordnung, ebenso seine Eltern – weil sie nichts gegen die Eskapaden ihres renitenten Sohnes unternähmen. Erwachsene Ausländer können mit dieser Begründung des Landes verwiesen werden. Also erhielten Mehmets Vater und Mutter, die seit 30 Jahren in Deutschland leben und arbeiten, einen Ausweisungsbescheid. Nach der Ausweisung der Eltern verliert auch ein Kind seine Aufenthaltsberechtigung, und so dauerte es nicht lange, bis Mehmet ebenfalls seinen Ausweisungsbescheid erhielt. Der Widerspruch des Anwalts ist kurz: „Ich sehe keine Rechtsgrundlage.“ Einerseits sei der Begriff der öffentlichen Ordnung sehr auslegungsbedürftig. Andererseits wird den Eltern, mit denen sich Eberth auf deutsch und ohne Übersetzer unterhält, keine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht vorgeworfen.

Mehmets Eltern waren geschockt, als sie von den Vorwürfen gegen ihren Sohn gehört haben. Die Frage, wie sie ihren Jüngsten erzogen hätten, beantworten sie so kurz wie naiv: „Gut.“ Mehmets Geschwister sind keine Sorgenkinder: der 22jährige Älteste macht eine Ausbildung bei der Telekom, der 18jährige Mittlere wird Lackierer in einem Kfz-Betrieb. Bei ihrem Jüngsten hätten es die Eltern wohl versäumt, „Werte zu vermitteln“, stellt Anwalt Eberth fest. Jetzt haben sie ihn nicht mehr unter Kontrolle: Viva-Verbot und Stubenarrest helfen nichts. Mehmets Familie wohnt im Parterre, er büxt nachts immer wieder durchs Fenster aus. Eberth: „Sollen ihn die Eltern vielleicht festbinden?“

In Neuperlach, Mehmets Heimat, scheint die Sonne. Neuperlach ist noch lange nicht fertig. 1967 wurde die Siedlung für 80.000 Einwohner geplant, Ende 1997 wohnten hier 49.493 Menschen, darunter viele Ausländer und arme Leute. Schön ist es hier nicht, aber auch nicht schrecklich. Auf jedem freien Flecken Wiese wird heute Fußball gespielt, Mütter gehen mit ihren Kindern spazieren. „Es ist nicht schlecht, hier zu wohnen“, berichtet eine davon, eine Deutsche: „Es sind halt sehr viele Kulturen hier. Andere Kulturen. Bei denen geht's erst richtig los, wenn bei uns die Schotten schon dicht sind.“ Die in München grassierende Jugendkriminalität kennt sie nur aus der Zeitung. Anders Peter (14): „Auf mich haben sie Kopfgeld ausgesetzt“, erzählt der Schulkamerad von Mehmet – scheint darauf aber eher ein wenig stolz zu sein. Angst hat er keine – na gut, da gibt es schon diese Schlägertypen, „die Verrückten“, aber es gebe auch „die Ruhigen“, zu denen gehöre er. Ähnlich schätzen das auch die vier Jungs auf der Nachbarwiese ein. Überhaupt, so spektakulär sei Neuperlach nun auch wieder nicht, berichtet der Jugoslawe Dragan (14): „Wir gehen in die Schule, essen, machen Hausaufgeben, spielen Fußball. Das war's.“

Gar keine Angst vor den marodierenden Straßenbanden? Die Türkin Layla (13) erzählt in breitem Bayerisch von einer Gang, den OMGs vom Oskar-Maria-Graf- Ring: „Die sind recht nett, nicht so Gangstertypen.“ Nur ein Passant schimpft heute offen auf den berühmten Jungen aus der Nachbarschaft: „Der hat sein Gastrecht verspielt, der ist gefährlich. Man muß auch an die Opfer denken.“

In knappen Worten faßt er damit die Ausländerpolitik der CSU zusammen. „Deutschland und Bayern sind kein Einwanderungsland“ heißt das Programm, vorgestellt wurde es vor drei Wochen von Peter Gauweiler auf dem kleinen CSU-Parteitag. Heute können es die Leute schon auswendig.

Gehört haben sie alle von Mehmet, und manche kennen inzwischen auch seinen richtigen Namen. „Es wird Tote geben“, heißt es in einem kürzlich bei Mehmets Familie eingetroffenen Drohbrief und: „Ihre Adresse hat die DVU.“ Auch Anwalt Eberth erhält Drohungen. Und er muß sich mit den wohlmeinenden Ratschlägen seiner Mitmenschen auseinandersetzen. Ob er denn Angst um seine Gesundheit habe, wird Eberth in letzter Zeit gerne mal gefragt, wenn er mit dem „Monster“ alleine in einem Raum sei. Ob er denn nicht befürchte, daß Mehmet auch ihm das Nasenbein bricht. Eberth, ein stattliches Mannsbild, kann da nur schmunzeln. Doch selbst am heimischen Küchentisch reißen die Diskussionen nicht ab. In der Schulklasse seines 14jährigen Sohnes findet sich eine Mehrheit für die Ausweisung des Türken: „Da haben die Mädchen Überzeugungsarbeit geleistet.“

Draußen, am Weg zur U-Bahn, hängt ein Plakat: „Wer mehr Zuwanderung will, darf uns nicht wählen. CSU“.