Analyse: Asiatischer Alptraum
■ Japans Regierung hat kein Rezept mehr gegen den Absturz des Yen
Wer gern Achterbahn fährt, kennt das Kribbeln im Bauch, wenn die Fahrt rasant in die Tiefe führt – und den unheimlichen Gedanken, daß sie auch in einem Crash enden könnte. So etwa muß derzeit Finanzmarktexperten in Asien auf ihren Drehstühlen zumute sein. Die Talfahrt der japanischen Währung hat in ganz Asien eine neue Abwertungsrunde eingeleitet, die bis gestern nicht gestoppt werden konnte. Von Seoul bis Bangkok fallen Devisen- und Börsenkurse auf historische Rekordtiefs. Der Yen hat im Verhältnis zum Dollar den tiefsten Stand seit acht Jahren erreicht.
Doch in den Schaltzentralen von Tokio fehlen wirksame Rezepte, um die Yenschwäche nachhaltig zu bekämpfen. Stützversuche der Notenbank scheiterten schon im April, als sie innerhalb von vier Tagen rund 21 Milliarden Dollar in den Sand setzte. Da hatte der Yen noch bei 130 zum Dollar gestanden. Trotz der stolzen japanischen Devisenreserven von rund 220 Milliarden Dollar ist von Notenbankinterventionen also nicht mehr viel zu erwarten.
Ein anderes Mittel, den Yen attraktiver zu machen, wären Zinserhöhungen. Doch seit Freitag gibt auch die Regierung zu, daß sich das Land in der schlimmsten Rezession seit dem Ölschock von 1973 befindet. Im ersten Quartal 1998 investierten japanische Unternehmen 5,8 Prozent weniger in neue Anlagen. Der Privatkonsum fiel um 2,1 Prozent und die Autoverkäufe, wichtiger Indikator für den Zustand der japanischen Wirtschaft, nahmen um 8 Prozent ab. Insgesamt ist die Wirtschaft im ersten Quartal, hochgerechnet auf das Jahr, um 5,3 Prozent geschrumpft. Eine Zinserhöhung würde den stotternden Konjunkturmotor vollends abwürgen.
Hinter der Yenabwertung steht aber auch das große Mißtrauen der japanischen Anleger gegenüber ihren eigenen Finanzinstituten. Seit die Devisenausfuhr am 1. April erleichtert worden ist, leidet Japan an einem Phänomen, das bisher nur aus Entwicklungsländern bekannt war: an Kapitalflucht. Finanzexperten schätzen, daß in den vergangenen zwei Monaten hohe zweistellige Milliardenbeträge das Land verlassen und damit den Druck auf den Yen massiv erhöht haben.
Richtig ist, daß nur mit mutigen strukturellen Reformen die Eckpfeiler der japanischen Wirtschaft wieder gestärkt werden können. Doch dafür fehlt der Regierung in Tokio die Entscheidungsfreude. Die streitet gegenwärtig mit den lokalen Behörden, wie denn das Stimulierungspaket von umgerechnet 208 Milliarden Mark ausgegeben werden soll. Vor Mitte des Sommers erwartet niemand eine Lösung, ohne die das Konjunkturpaket wirkungslos bleibt. Bis in Tokio Bewegung entsteht, kann der Dollarkurs des Yen noch unter die 160-Marke stürzen. Aus diesem Alptraum werden Japans Nachbarn so schnell nicht erwachen. André Kunz, Tokio
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