Das verletzte Haus

Mies van der Rohes Landhaus Lemke steht noch immer, zeigt Kunst – und was vom Baudenkmal selbst noch übrigblieb  ■ Von Christina Bylow

Naß gibt der Rasen nach wie eine vollgesogene Badematte. Ohne Bewässerung verdorrt das Gras schon in der Morgensonne. Unter dem Garten liegt Beton. Vielleicht ist das die größte und dabei am besten verborgene Wundfläche des Anwesens am Obersee in Berlin-Hohenschönhausen: Aus der Einheit von Landschaft und Architektur wurde 1983 ein Gebäude mit Parkplatz. Die blauweiße Plakette mit der Aufschrift „Baudenkmal“ klebte damals schon einige Jahre auf der Backsteinfassade. Sie hat dem Haus nichts erspart.

1932 sprach Mies van der Rohe vor dem Werkbund Berlin von jenem wirklichen Leben, das, vital gesichert, gleichzeitig Raum läßt für die Entfaltung des Geistes. Es war das Jahr, in dem er in Berlin zum letztenmal ein Wohnhaus baute: Das Landhaus Lemke in Hohenschönhausen. Als Mies van der Rohe Mitte der 60er Jahre als Architekt der Neuen Nationalgalerie vorübergehend wieder in Berlin war, versuchte er das Haus wiederzusehen – vergeblich, was ihn vor dem Entsetzen über die Umbauten bewahrte. Von außen hätte er das Haus noch identifizieren können. Die Innenräume aber wurden seit 1945 bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Der Bildhauer Günther Uecker hat die Verletzung des Hauses jetzt sichtbar gemacht. Seine Arbeit „fragmente“ nutzt die Räume nicht als Ausstellungsfläche, sie stellt die Räume in ihrer Versehrtheit aus. Mit den ihm eigenen Mitteln – Papier, Nägel, Holz, weiße Farbe, Stoffbahnen, Kohle – kennzeichnet Uecker die verlorenen Spuren der originalen Raumarchitektur. Das Haus als geschundener Körper: Wo eine Wand war, splittern Holzbalken; die heute geduckten Türen zeichnete er in voller Raumhöhe an; Fenster, die es zuvor nicht gab, wurden mit Papierbahnen vermauert; an einer Ecke des Flachbaus schwebte bei der Eröffnung ein roter Luftballon. Ein Warnsignal: Das Fundament senkt sich an dieser Stelle ab. Es ist eine künstlerische Arbeit, die sich als Hilferuf versteht, nicht eines der „bedeutenderen“ Uecker-Werke in Berlin wie etwa jene im Hamburger Bahnhof.

Uecker, 1930 in Mecklenburg geboren und seit den 50er Jahren in Düsseldorf lebend, ist Mitglied einer gerade gegründeten Initiative zur Rettung des Mies van der Rohe Hauses, ebenso wie der Architekt Mark Braun, Berliner Büroleiter des Reichstags-Bauers Norman Foster. Zweieinhalb Millionen Mark sind für die weitgehende Wiederherstellung des Hauses in seiner ursprünglichen Form nötig; das ergab ein Gutachten, das die Stadt Berlin letzten Herbst in Auftrag gegeben hatte.

Seither steht das Haus mit ungewisser Zukunft auf der Investitionsliste der Stadt. Vom Jahr 2000 an soll über einen Zeitraum von drei bis vier Jahren jährlich eine Summe von 300.000 Mark in seine Erhaltung fließen. Ein Betrag, der gerade die allernötigsten Reparaturen deckt, sagt Wita Noack, die das Mies van der Rohe Haus seit 1992 leitet. Ein paar Jahre zuvor hatte sie das hinter Buchsbaumhecken verborgene Haus noch von der Straße aus zu sehen versucht, beobachtet von Kameras, die ihren Bewegungen folgten.

Das Landhaus Lemke, 1945 von der Roten Armee als Lagerraum und Garage requiriert, gehörte seit 1962 zum Hoheitsgebiet der Stasi. Mielke beherbergte seine Gäste gleich nebenan. Das Mies van der Rohe Haus stieg in den denkwürdigen Rang des Wäschestützpunkts auf. Auch als Aufenthaltsraum für die umliegenden Stasi- Gästehäuser soll es gedient haben. Archivbilder zeigen Schrankwände und Häkeldeckchen. Funktionärsbehaglichkeit.

Mies van der Rohe, letzter Direktor des Bauhauses in Dessau vor der erzwungenen Schließung im Herbst 1932, gehörte nicht zum schützenswerten sozialistischen Kulturerbe. Im offiziellen Bauhaus-Führer aus dem Jahr 1985 wird nicht nur seine Überlebensstrategie als Leiter der Schule kritisiert („man muß aber sehen, daß mit der Entpolitisierung der Schule [...] auch der soziale Gedanke zurücktrat“); es werden auch seine Einfamilienhäuser in ihrer Vorbildfunktion für die Studenten bemängelt: „[...] sie orientieren sich an den Wohnbedürfnissen einer gehobenen Gesellschaftsschicht.“

Das kinderlose Ehepaar Lemke, Verleger und Druckereibesitzer, war ohne Zweifel bourgeois, wenn auch ohne Vermögen. Mies van der Rohe soll sogar auf den Großteil seines Honorars verzichtet haben. Lemkes, die in der Weimarer Republik noch mit dem Kommunismus sympathisiert hatten, wurden 1945 von der Roten Armee aus dem Haus geworfen. Bis zu ihrem Tod lebten sie im Westteil Berlins, ohne ihr Haus jemals wiedergesehen zu haben.

Seit 1990 gehört das Mies van der Rohe Haus der Stadt Berlin, Bezirk Hohenschönhausen. Das Kulturamt unterhält eine Galerie in den provisorisch hergerichteten Räumen. Wita Noack, in der DDR ausgebildete Kulturwissenschaftlerin, zeigt zwar keine architekturbezogene Kunst. Dennoch wird das Ausstellungsprogramm vom Haus bestimmt. Max Bills Farbraster, Leuchtzeichen von John Law, die reduzierten Farb- und Fotografiestudien von Enzo Enzel. Nach der Uecker-Ausstellung wird Noack Werke des verstorbenen ungarischen Konkreten Imre Kocsis zeigen. Das Haus ist laut Wita Noack selbst in ramponierter Verfassung ein strenger Richter: „Es entlarvt schlechte und erhöht gute Kunst.“

Günther Uecker: „fragmente“. Bis 21.6. Mies van der Rohe Haus, Oberseestraße 60 (Eröffnung Imre Kocsis am 26. Juni, 19.30 Uhr)