Mon Dieu Mondial
: Lektion in Völkerkunde

■ Bei den Jugoslawen spielt Milosevic im Angriff! Fußball zeigt die Welt so, wie sie ist

Fußball ist Gott, und Gott ist allwissend. Diese profane Erkenntnis liefert den wahren Grund dafür, daß jeder zweite Satz im Zusammenhang mit Fußball eine ewige Wahrheit ist. Der Ball ist rund. Ein Spiel dauert neunzig Minuten. Entscheidend is auf'm Platz. DDR gegen BRD 1:0. Die Wahrheit dieser Weltmeisterschaft lautet: „Ich sage schon lange, daß es die kleinen Mannschaften nicht mehr gibt“ (Berti Vogts).

Für den Titel in Frankreich werden erstmals mehr Geheimfavoriten gehandelt, als überhaupt Mannschaften zur WM angetreten sind: Spanien, Nigeria, Jugoslawien, Norwegen, Süd-Korea, Mexiko, Kroatien, Italien, Chile, Deutschland, Tunesien, Jamaika, Iran, Belgien, Schottland, Österreich, Marokko, Niederlande, USA, Nigeria, Japan, Argentinien, Kamerun, Dänemark, Südafrika, Saudi-Arabien, Frankreich, Paraguay, Bulgarien, England, Kolumbien, Rumänien, Grönland, Israel, Tschetschenien, Dagestan – alles Geheimfavoriten. Und alle Geheimfavoriten haben Geheimwaffen. In geheimen Verstecken. Wo sie geheim trainieren.

Da sieht man nicht mehr durch? Aber klar doch. Die Wahrheit von Berti Vogts ist nicht mehr als die moderne Interpretation einer alten Erkenntnis: Es gibt keine leichten Gegner mehr. Dieser Satz ist seit 1930 gültig.

Der Fußball braucht solche Gewißheiten, und er schafft sie ständig neu. Er ist unser letztes Refugium in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Globalisierung? Turbo- Kapitalismus? Schengener Abkommen? Beim Fußball werden noch Grenzen gezogen, da ist die Welt so, wie sie immer war. Der Japaner ist klein und wieselflink, der Bulgare hinterhältig und der Engländer ständig besoffen.

Die Fußball-WM ist eine einzigartige Lektion in Völkerkunde. Alles, was wir von der Welt wissen, wird uns dort Tag für Tag, Spiel für Spiel bestätigt. Die Amerikaner sind coole Amis, die Belgier rote Teufel und die Rumänen Osteuropäer. Die Schotten sind tapfere brave hearts, die von einer WM schneller wieder zu Hause sind als eine Ansichtskarte. Die Kameruner reisen ohne Visa und nur mit Fotokopien ihrer Pässe in Frankreich an. Die Iraner dürfen nach dem Spiel gegen die USA nicht ihre Trikots tauschen, und wenn sie verlieren, sagt ihr Staatspräsident Sätze, die aus dem Koran stammen müssen: „Zu gewinnen oder zu verlieren bedeutet nicht das Ende des Weges.“ (Unter Umständen aber das Ende der WM.) Bei den Afrikanern liegt es im Blut, daß sie nie Weltmeister werden: Sie können sich nicht fünf Wochen lang konzentrieren. Die Jamaikaner sind lustige, kiffende Reggae Boyz, die sich nach einer 0:18-Niederlage mit den Torschützen der gegnerischen Mannschaft zusammen fotografieren lassen. Bei den Jugoslawen spielt Milosevic mit – im Angriff! Und die Norweger sind Wikinger. Sie haben als Trainer einen Wissenschaftler, der in Gummistiefeln rumläuft und herausgefunden hat, daß seit 1966 achtzig Prozent aller Tore nach Spielzügen mit vier oder weniger Pässen erzielt wurden. Er entwickelt ständig neue Theorien, weil er weiß, daß es im Fußball genauso ist, wie es Karl Marx in seiner Dialektik erklärt hat: „Lange bevor sich eine Idee überhaupt durchsetzt, hat schon wieder jemand eine Gegenidee entwickelt.“

Norwegen und Karl Marx! Indem uns der Fußball die anderen Völker so zeigt, wie sie sind, gibt er uns eine Vorstellung davon, warum wir nicht so sein wollen wie sie. Die Fußball-WM ist das letzte Ereignis, das nationale Geborgenheit schafft. Wir wollen so sein wie die deutschen Fußballer: respektiert, beständig, erfolgreich. Und immer den richtigen Paß dabei! Jens König

Der Autor ist Ressortleiter Inland der taz