Ronaldo wirft Schleudergang an

„Spielfreudig und effizient“: Beim 3:0 gegen Marokko zeichnet sich ab, daß Brasilien die Balance zwischen Konzentration und Leichtigkeit finden könnte  ■ Aus Nantes Christoph Biermann

Meistens kündigt es sich irgendwie an, wenn Fußballmannschaften ihre Tore schießen. Da spürt man bis auf die Ränge hinauf eine sich verdichtende kollektive Anstrengung, ein wachsendes Bemühen, das sich in zunehmender Feldüberlegenheit niederschlägt und irgendwann in einem Treffer. Bei dieser Weltmeisterschaft ist das nicht anders – außer, Brasilien spielt. Auch gegen Marokko kamen die Tore unvorhersehbar, wie aus dem Nichts erzielt. Zuerst ein fast ansatzloser Steilpaß von Rivaldo auf Ronaldo, später ein kurzes Anspiel auf Cafu, seine scharf und flach vors Tor gespielte Hereingabe und das 2:0 durch Rivaldo. Zweifellos verdient waren beide Treffer gegen eine überraschend deutlich unterlegene marokkanische Mannschaft, aber entgegen sonstiger Fußballogik schienen sie nicht besonderer Anstrengung entsprungen, sondern eher dem Gegenteil.

Als Ronaldo nach 50 Minuten dem bedauernswerten marokkanischen Verteidiger Saber in der Nähe des eigenen Strafraums den Ball abnahm und Bebeto problemlos das dritte Tor schießen konnte, wirkte Brasilien endgültig befreit. Zumindest eine Viertelstunde lang mußten sich die Marokkaner im Wirbel der gegnerischen Kombinationen vorkommen, als wären sie beim Schleudergang in eine Waschmaschine eingesperrt. Der große Favorit auf den Titelgewinn spielte endlich so, als ob er für einem Moment das Gebirge von Erwartungen in der Heimat, die Inquisitionen des brasilianischen Pressecorps und die Maulereien der Bankdrücker vergessen hätte. „Wenn wir uns entspannen, dann kommen auch die Resultate“, meinte Cafu hinterher und dürfte sich damit nicht so sehr auf das Spielergebnis, sondern sein Zustandekommen bezogen haben.

Für Mario Zagallo liegt die wesentliche Aufgabe nicht darin, sein Team zur Anstrengung anzuspornen, sondern es in die richtige Balance zwischen Konzentration und Leichtigkeit zu versetzen. Gegen Marokko zeichnete sich erstmals ab, daß ihm das gelingen könnte. Als „spielfreudig, glänzend und effizient“ lobt der brasilianische Nationaltrainer sein Team: „Ich bin glücklich über alles, die Abwehr, das Mittelfeld und den Sturm.“ Seine Stürmer hatten beide getroffen und sich damit erst mal der Kritik entzogen, die es bereits an Ronaldo und Bebeto gab. Das Mittelfeld war durch den Einsatz von Leonardo wesentlich kreativer als gegen Schottland. Und mit einem gewissen Fehlerquotienten seiner Innenverteidiger Aldair und Junior Baiano dürfte Zagallo sich längst abgefunden haben.

Außerdem war der Spielverlauf gegen Marokko für den Coach ideal, um durch Einwechslungen noch etwas Innen- und Außenpolitik zu betreiben. Nach dessen Treffer konnte er ganz beruhigt den zuletzt besonders hart kritisierten Bebeto vom Platz nehmen und brachte dafür Edmundo. Der Liebling der Cariocas hatte sich in den letzten Tagen andauernd lauthals angeboten, stolperte nun aber von einer Peinlichkeit zur nächsten. Edmundo wirkte langsam, unbeweglich, zweikampfschwach, und als er einen Hackentrick ins Aus spielte, dürfte sich das Thema für alle sichtbar und für Zagallo sowieso erst mal erledigt haben.

Den vom überwiegend brasilianischen Publikum in Nantes schon früh geforderten Denilson hingegen wechselte der brasilianische Nationaltrainer erst in der Nachspielzeit ein. Das ist wohl als Hinweis zu werten, daß sich der sensationell talentierte 20jährige bei dieser WM zunächst als Ergänzungsspieler zu begreifen hat. Die Ordnung nach innen bleibt somit hergestellt, und nach außen ist der hysterischen Heimatpresse erst einmal aufgezwungen, sich mit der Abfassung von Jubelhymnen zu beschäftigen.

Etwas schade ist nur, daß all die brasilianischen Ego-Probleme auf Kosten einer marokkanischen Mannschaft gelöst wurden, die eigentlich mehr verdient gehabt hätte. Doch es blieb an diesem Abend angesichts einiger hübscher Kurzpaßkombinationen eher bei einer Ahnung davon, wie gut sie wirklich sein könnte. Angesichts weitergehender brasilianischer Lockerungen werden bei dieser WM allerdings noch mehr Mannschaften das Schicksal der Marokkaner teilen.

Marokko: Benzekri – Naybet, Rossi, El Hadrioui – Saber (76. Abrami), Chiba (76. Amzine), El Hadji, Tahar, Chippo – Bassir, Hadda (89. El Khattabi)

Zuschauer: 33.266

Tore: 1:0 Ronaldo (9.), 2:0 Rivaldo (45.), 3:0 Bebeto (50.)

Brasilien: Taffarel – Cafu, Junior Baiano, Aldair, Roberto Carlos – Leonardo, Cesar Sampaio (68. Doriva), Dunga, Rivaldo (88. Denilson) – Ronaldo, Bebeto (72. Edmundo)