„Der Vater empfahl dem Lehrer nicht zu widersprechen“

■ betr.: „Das Volk darf über Schreib regeln richten“, taz v. 4. 6. 98

„Ich habe nichts dagegen, wenn im Frieden Schwachköpfe in den hohen Ämtern sitzen. Aber im Krieg sollte man zum Kriegsminister nur einen Mann bestellen, der eine Landkarte von einem Teppichmuster unterscheiden kann.“ (Lion Feuchtwanger aus: „Füchse im Weinberg“)

Bis auf wenige Ausnahmen bringt die heute vorliegende Reform weder Transparenz noch Einfachheit in Rechtschreibung und Grammatik. Eher ist sie nutzlos, inkonsequent, undurchsichtig, verwirrend und birgt die Gefahr von Unsicherheit und neuer Fehlerquellen. Sie bewirkt eine akute Verkomplizierung der Satzverständlichkeit und der Lesbarkeit, und, was am schlimmsten ist, sie zerstört die schriftsprachliche Einheit. Ganze Generationen werden mit unterschiedlichen Orthographien aufwachsen und diese weitergeben.

Besonders verheerend wirkt sich die Liberalisierung der Interpunktion auf die Satzverständlichkeit aus: „Der Vater empfahl dem Lehrer nicht zu widersprechen.“

Dieser Satz läßt nach der Neureglung drei unterschiedliche Interpretationen zu:

1. Ohne Komma (d.h., der Vater gab keine Empfehlung), 2. Komma hinter „empfahl“, 3. Komma hinter Lehrer. Die neuen Regeln verlangen ein noch höheres Maß an Wissen, Intelligenz und Feingefühl bei der Auswahl von Schreibweisen als die jetzigen. Da sich das neue Regelwerk mit einer Vielzahl von Beliebigkeiten und Varianten schmückt, geht die Verantwortung der Schreibung nahezu allein auf den Schreibenden über. Somit wird dem ach so schützenswerten Schüler eine noch größere Verantwortung zuteil, als die Reformer eigentlich beabsichtigten. Drückt sich aber der schreibschwache Schüler nun vor dieser Verantwortung, so entstehen in Zukunft absonderliche Werke der Schreibkunst, die kein vernünftiger Mensch mehr lesen kann und will.

Es kann nicht das Ziel einer Reform sein, auf Kosten der Lesbarkeit unserer über Jahrhunderte gewachsenen Sprache Altbewährtes leichtsinnig dem Reißwolf zu übergeben, nur weil einige Leute Fehler beim Schreiben machen! Es kann doch nicht angehen, daß eine Minderheit von schreibschwachen Schülern das entscheidende Kriterium für eine Umgestaltung der Schriftsprache darstellt!

Zensuren werden nicht mehr den wahren Bildungsstand eines Schülers repräsentieren können. Schon jetzt geraten gewissenhafte Lehrer in einen Konflikt mit der übergeordneten Behörde. Überall dort, wo beim Schreiben Beliebigkeiten und Varianten zugelassen sind, werden natürlich schon aus rein primitiv-mathematischer Sicht keine Fehler mehr auftreten. „Schreibt, wie Ihr wollt!“, könnte man das nennen, und wer hier meint, er könnte dann aus Fehlerquoten in Diktaten auf die Qualität des Schülers schließen, den darf ich mit gutem Gewissen seine Kompetenz in Sachen Schreibung und Pädagogik absprechen. Den Schaden, den ein solcher Nichtkompetenter damit anrichtet, dürfte sein lernendes Volk spätestens mit dem Eintritt in ein seriöses Berufsleben bemerken.

Ich bin gespannt, wer hier irgendwann einmal für verantwortungslose Volksverdummung, Geldverschwendung und Zerstörung kultureller Güter zur Verantwortung gezogen werden wird. [...] Jürgen Langhans,

76228 Karlsruhe