Splitternde Knochen

Rund sieben Millionen Menschen in Deutschland leiden an Osteoporose. Die Früherkennung des Knochenschwunds ist schwierig, umstritten ihr Sinn. Nun wollen die Krankenkassen Diagnostika nicht mehr zahlen  ■ Von Hanne
Schweitzer

Noch vor fünfzehn Jahren wußte fast niemand, was sich hinter diesem Zungenbrecher verbirgt – mittlerweile gilt Osteoporose als typische Alterskrankheit. Fünf bis sieben Millionen Menschen sollen in der Bundesrepublik daran erkrankt sein. Die vage, aber durchaus schockierende Angabe über das Ausmaß dieser Krankheit wird immer wieder vom Kuratorium Knochengesundheit in Umlauf gebracht. Der gemeinnützige Verein mit rund 15.000 Mitgliedern spricht sich vehement für die apparative Messung der Knochendichte und für die Einnahme von Medikamenten zur Osteoporosevorbeugung aus. Der Bundesselbsthilfeverband für Osteoporose (BFO) hingegen geht davon aus, daß keine zuverlässigen Daten zur Häufigkeit von Osteoporoseerkrankungen vorliegen.

Der normale Alterungsprozeß von Knochen beginnt beim Menschen etwa im 35. Lebensjahr. Zu diesem Zeitpunkt haben die Knochen eine maximale Dichte erreicht. In den nachfolgenden Lebensabschnitten schwindet die Knochenmasse. Es wird mehr ab- als aufgebaut. Von diesem natürlichen Schwund, der pro Jahr etwa ein bis anderthalb Prozent beträgt, sind schwammige Knochen, wie die Wirbelsäule, zuerst betroffen. Bis zum siebzigsten Lebensjahr hat sich die Knochensubstanz – wie übrigens auch die Muskelmasse – ungefähr um ein Drittel verringert. Bei den meisten Menschen führt das zu keiner Beeinträchtigung ihrer Gesundheit. Knochenschwund ist also nicht a priori ein Grund zur Besorgnis.

Die Knochen können aber so brüchig und porös werden, daß sie Belastungen nicht mehr standhalten. Die Folge sind unter Umständen schmerzhafte Deformationen oder Brüche der Wirbelkörper. Sind mehrere Wirbel betroffen, kann sich bei Frauen wie Männern die Wirbelsäule extrem verkrümmen, im Volksmund auch Witwenbuckel genannt. Auch die jenseits des 74. Lebensjahres häufiger auftretenden Oberschenkelhalsbrüche und Frakturen der Arme haben zum Teil als Ursache poröse und brüchige Knochen.

Bis in die sechziger Jahre wurde nur dann von Osteoporose gesprochen, wenn der Augenschein ergab, daß die Reduzierung der Knochendichte Ursache für eine Fraktur war. Erst der medizinisch-technische Fortschritt hat zur Verwirrung des Begriffs geführt. Heute charakterisiert Osteoporose nicht mehr nur die Ursache eines Knochenbruchs; inzwischen gilt schon der Alterungsprozeß der Knochen als Krankheit. Sobald ein radiologisch bestimmter Meßwert der Knochendichte von einer willkürlich gesetzten Norm abweicht, reicht das aus, um von Osteoporose zu sprechen. Beim Bundesselbsthilfeverband für Osteoporose hingegen heißt es: „Es gibt bisher weder eine klinische Untersuchung noch Laborparameter oder technische Untersuchungen, die die Diagnose einer Osteoporose direkt erlauben.“

Um sich Klarheit zu verschaffen, gab das Bundesministerium für Gesundheit vor vier Jahren eine Untersuchung in Auftrag. Aufgrund einer internationalen Literaturstudie kamen die Autoren zu dem Schluß, daß keine medizinischen Erkenntnisse vorliegen, die eine Kassenfinanzierung der Knochendichtemessung rechtfertigen. „Unsinnig diagnostiziert und kräftig verdient“, bilanzierte ein Beitrag des TV- Magazins „Report“ seinerzeit das Ergebnis.

Seitdem berät der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen, ob Knochendichtemessungen in Zukunft weiter von den Krankenkassen bezahlt werden sollten. Nächste Woche will der Ausschuß zu einer Entscheidung kommen. Diese hätte vor allem finanzielle Konsequenzen. Im „einheitlichen Bewertungsmaßstab“ der Krankenkassen schlägt eine Knochendichtemessung mit 450 Punkten zu Buche. Dazu schreibt Osteoporose Aktuell, eine Zeitschrift, die vom BFO herausgegeben wird: „Für den Überlebenskampf der Orthopäden ist entscheidend, ob der Punktwert sechs oder vier Pfennig beträgt. Bleibt bei sechs Pfennig ein kleiner Gewinn übrig, zahlt er bei vier Pfennig häufig zu.“ Die Anschaffung und der Einsatz der notwendigen Geräte für die Messung rechne sich nur, heißt es weiter, „wenn pro Tag mindestens fünfzehn Patienten eine Osteodensitometrie erhalten“.

Mit über hunderttausend Unterschriften und einer „Patientendemonstration“ in Bonn will das Kuratorium für Knochengesundheit erreichen, daß die Knochendichtemessungen weiterhin in voller Höhe von den Krankenkassen bezahlt werden. Das Kuratorium warnt vor einer Zweiklassenmedizin, wenn das nicht der Fall sein sollte.

Skepsis ist auch angebracht, wenn beispielsweise die Deutsche Ärztezeitung berichtet, daß „jüngsten Analysen zufolge sich 150.000 Oberschenkelhalsbrüche auf dem Boden einer Osteoporose ereignen“. Solche Zahlen schüren die Angst vor Alter und Gebrechlichkeit – und sie ignorieren, daß auch Schwindel oder eingeschränkte Sicht Ursache von Stürzen sein können.

Die letzten Daten des Statistischen Bundesamtes nennen jedenfalls andere Zahlen. Demnach wurde die Diagnose „Oberschenkelhalsbruch“ 1995 insgesamt 111.246mal gestellt. Wie viele dieser Frakturen durch starken Knochenschwund verursacht waren, sagt die Statistik nicht. Immerhin weist sie aus, daß 74.803mal Patienten betroffen waren, die älter als 74 waren. Umgerechnet auf die Gesamtzahl aller Übervierundsiebzigjährigen sind das 1,2 Prozent.

Auch wenn in der Werbung anderes behauptet wird: Gegen das Altern, auch gegen das der Knochen, ist noch kein Kräutlein gewachsen. Unumstrittene Empfehlungen sind selten. Vor allem die Pharmalobby verstellt oft den Blick auf diese Realität und suggeriert gern schnörkellose Antworten, wo differenzierendes Abwägen wichtiger wäre.

Eine ausreichende Versorgung mit Mineralien – Kalzium, Magnesium, Fluoride, Biphosphonate und Vitamin D – soll den Aufbau von Knochenmasse stimulieren und den Abbau hemmen. Allerdings differieren die Ansichten darüber, was „ausreichend“ ist. Zudem fehlen gesicherte Untersuchungen darüber, ob diese Stoffe tatsächlich das Risiko von Frakturen im Alter senken können. Einzige Ausnahme laut Winfried Beck, Orthopäde in Frankfurt: „Für Biphosphonate ist zwischenzeitlich eindeutig eine Frakturreduzierung festgestellt worden.“

Regelmäßiges körperliches Training beeinflußt die Funktionsfähigkeit des Bewegungsapparats positiv. Das gilt auch für Menschen in sehr hohem Alter. Die Trainierbarkeit höre nie auf, sagen Ärzte, selbst wenn man erst mit achtzig anfange.

Seit die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1981 die Menopause als Östrogendefizitkrankheit und als Risiko für andere Erkrankungen definiert hat, gilt Knochenschwund in erster Linie als typisch weibliche Alterserkrankung, sozusagen als Folge eines Mangels der weiblichen Physiologie. Da aber die wenigsten Frauen nach der Menopause an Knochenschwund leiden und männliche Knochen auch dem Schwund unterworfen sind, muß es neben der Veränderung des weiblichen Hormonhaushalts wohl weitere Ursachen geben.

Dessenungeachtet wird von Medizinern und pharmazeutischer Industrie weltweit propagiert, daß die Hälfte der Menschheit, nämlich die Frauen, über zwanzig oder noch mehr Jahre Hormontabletten zur Vorbeugung gegen Osteoporose nehmen sollen.

Es ist nachgewiesen“, schreibt etwa das Kuratorium Knochengesundheit, „daß eine Östrogen/Gestagen- Behandlung während und nach den Wechseljahren den postmenopausalen Knochenmasseverlust verhindert und auch noch bei Behandlungsbeginn lange nach der Menopause wirksam ist.“

Hormongegner warnen jedoch vor Thrombosen oder Lebertumoren, vor Gebärmutterschleimhautkrebs und Veränderungen der Gallenblase. Mit besonderem Nachdruck verweisen sie auf das Brustkrebsrisiko. Eine in der britischen Fachzeitschrift Lancet veröffentlichte Auswertung fast aller bis heute durchgeführten Studien kam zu folgendem Ergebnis: Wird die Hormonpille länger als fünf Jahre genommen, steigt das Brustkrebsrisiko pro Jahr um 2,3 Prozent.

„Es gibt ein neues Leben nach der Menopause“, mit diesem diskriminierenden Slogan wirbt ein neues Medikament namens Evista in den USA. Das Produkt soll der Osteoporose vorbeugen und zielt auf Frauen, die die Einnahme von Hormonen aus Angst vor Krebs bisher verweigert haben.

Neu an Evista: Bei zwölftausend Frauen, die Evista zweieinhalb Jahre getestet haben, wurde keine Zunahme von Brust- und Unterleibskrebs festgestellt. Vorsicht sollte man bei dem neuen Designerhormon trotzdem walten lassen: „Es ist nicht bekannt“, heißt es im Kleingedruckten der amerikanischen Anzeigenkampagne, „ob durch Evista Knochenbrüche vermieden werden.“