Soziale Marktwirtschaft als ethisches Programm

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik die Soziale Marktwirtschaft etabliert. Sie sollte eine Balance schaffen zwischen ökonomischen Zwängen und einer sozial orientierten Politik. Ihr Vordenker: Alfred Müller-Armack, enger Berater Ludwig Erhards. Sein Konzept ermöglichte das Wirtschaftswunder – und ist jetzt durch die Globalisierung gefährdet  ■ Von Daniel Dietzfelbinger

Die Marktwirtschaft führt in Zeiten einer globalen Wirtschaft scheinbar adjektivlos ihren Siegeszug durch die Welt. Und dennoch begehen Politiker wie Historiker große Festtage, die die Geburtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft, der Nachkriegsordnung – zunächst des westlichen Teil – Deutschlands feiern. War es im vorigen Jahr der hundertste Geburtstag von Ludwig Erhard, so steht 1998 ganz im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft. Am 20. Juni, dem Tag der ersten Währungsreform nach dem Krieg, wird sie fünfzig Jahre alt, im März hatte einer der großen Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft den zwanzigsten Todestag: Alfred Müller-Armack, Wirtschaftswissenschaftler und Religionssoziologe, Politiker und vor allem: Fußnotenkind der deutschen Geschichte.

Wer war Alfred Müller-Armack? War er wirklich der vielzitierte Vater der Sozialen Marktwirtschaft? Der Begriff Soziale Marktwirtschaft wird von Müller-Armack bereits im Jahre 1946 erstmals schriftlich fixiert.

Das Programm der Sozialen Marktwirtschaft entwirft Müller-Armack Mitte der vierziger Jahre aufgrund einer intensiven Auseinandersetzung mit der Lenkungswirtschaft, also der ökonomischen Form, in der der freie Wettbewerb weitgehend durch staatliche Regulierungsmaßnahmen aufgehoben ist. In den zwanziger und dreißiger Jahren prägte eine Fragestellung die Wirtschaftswissenschaften: Wie läßt sich die Grundidee des Liberalismus – freier Wettbewerb – mit der des Sozialismus – soziale Gerechtigkeit – verbinden?

Die Suche nach einer Wirtschaftsform, die beide Grundgedanken verbindet, wurde durch die restriktive Politik der Nationalsozialisten zunächst unterbunden. Schon während des Dritten Reiches arbeitet Müller-Armack, wie andere Wirtschaftswissenschaftler auch, an einer Nachkriegsordnung Deutschlands. Aus diesem Prozeß entsteht die Idee einer Sozialen Marktwirtschaft, die also schon begrifflich eine Überwindung der Gegensätze vermittelt.

Die Soziale Marktwirtschaft, wie sie Müller-Armack in den vierziger Jahren entwirft, ist mehr als eine Wirtschaftsordnung, sie ist eine spezifische Gesellschaftstheorie, eine feinsinnige Antwort auf die Defizite des Menschen. Sie basiert auf zwei Werten: Freiheit und soziale Gerechtigkeit, die Müller-Armack explizit aus der christlichen Tradition entwickelt.

Aber: Es ist nicht einfach eine Verbindung der beiden Elemente. Soziale Marktwirtschaft ist kein Nullsummenspiel, Freiheit und soziale Gerechtigkeit stehen sich nicht in einem Trade-off gegenüber. Müller-Armack setzt Wettbewerbs- und Sozialpolitik nicht in ein Waagenverhältnis, etwa in der Form, daß das eine gestärkt werden müsse, wenn das andere Prinzip die Überhand gewinnt. Sondern: Wettbewerb und soziale Gerechtigkeit bedingen einander. Ohne Freiheit keine soziale Gerechtigkeit, ohne Sozialpolitik kein fair funktionierender Wettbewerb.

Wie soll das gehen? Müller-Armack setzt die Freiheit der Marktordnung als Grundlage, sie ist das innere Funktionssystem seiner Theorie. Freiheit versteht Müller-Armack kommunikativ, sie ist zweifach geprägt: Freiheit bedeutet frei von, vor allem aber frei zu etwas zu sein. Das Individuum ist angehalten, Freiheit verantwortlich zu gestalten.

So verstanden kann sich dann theoretisch fairer Wettbewerb entwickeln. Gehen alle am Markt Beteiligten mit der Freiheit verantwortlich um, so kann sich Wettbewerb zum sozialgestaltenden Element eines gesellschaftlichen Gefüges entwickeln. In der Theorie schafft es der Wettbewerb, durch den Konkurrenzgedanken das Streben nach Monopolen und Macht systematisch auszuschalten. Also dient der Wettbewerb nach Müller-Armack an sich dem Gesamtnutzen, da die Interessen des Individuums dem Nutzen des ganzen Gemeinwesens dienen.

Das ist das theoretische Wettbewerbsmodell. Aber Müller-Armack, von 1952 bis 1963 im Wirtschaftsministerium als enger Mitarbeiter Ludwig Erhards tätig, war kein theorieverliebter Schreibtischtäter. Er nahm den ganzen Menschen mit all seinen Defekten in den Blick: Die Theorie des reinen Wettbewerbs mag zwar ideal sein, aber die Realität sieht anders aus.

In der Praxis nämlich verführt Freiheit zum Mißbrauch. Das Individuum kann gegen eine kommunikativ verstandene Freiheit verstoßen, wenn es sein Eigeninteresse über das der anderen stellt und versucht, mit unlauteren Mitteln Macht über die anderen Individuen zu bekommen. Wird die Freiheit willkürlich mißbraucht, sind die Nachahmer nicht weit. Wenn Menschen sich zu Ordnungen zusammenfinden, so Müller-Armack, bestehe die Gefahr, daß sich Verstöße gegen die Spielregeln der Freiheit zu einer Bedrohung für die gesamte Ordnung auswachsen.

Somit hat der Wettbewerb in der Praxis auch „Kampfcharakter“. Diese Erkenntnis ruft für Müller-Armack den Staat auf den Plan. Dieser sei nicht alleine dazu da, die Wettbewerbsordnung zu garantieren, sondern er müsse genau die Defizite, die der reine Wettbewerb realiter mit sich bringt, ausgleichen. Also muß der Staat sich um die sozialen Belange des Gemeinwesens kümmern, die eine Marktordnung alleine nicht abdecken kann. Der Staat hat für Bildung, Versicherungswesen, Sozialabsicherung zu sorgen, da dies eine Wettbewerbswirtschaft nicht leisten könne.

Der Schutz der allgemeinen Güter – also etwa die Umwelt, die jedem zur Verfügung steht, ohne daß er dafür bezahlen muß – soll vom Staat garantiert werden. Denn, so Müller-Armack, nur wenn die Individuen sozial abgesichert sind, können sie erfolgreich am Wettbewerb teilnehmen. Ist die Teilnahme am Wettbewerb durch die Bedrohung, sozial abzustürzen, gefährdet, so wird der Wettbewerb zu einer Veranstaltung weniger Menschen, die sich um eine solche Gefährdung keine Gedanken machen müssen.

Auch fördert die soziale Absicherung den Unternehmergeist: Wenn einem das Sozialsystem die Möglichkeit einer zweiten Chance bietet, riskiert man eher etwas, als wenn dadurch gleich die Existenz bedroht ist. Aber noch mehr fällt nach Müller-Armack in die Kompetenz des Staates: Der Wettbewerb muß fair bleiben. Die Spielregeln für den Wettbewerb müssen vom Staat aufgestellt werden. Das ermögliche erst wieder fairen Wettbewerb, so Müller-Armack. Dem Staat wird das Recht eingeräumt, mit marktkonformen Maßnahmen sozialgestalterisch in das ökonomische Handeln einzugreifen.

Als marktkonform gelten nach Müller- Armack alle Maßnahmen, die das innere Funktionssystem der Marktwirtschaft nicht gefährden, bestenfalls sich dieses sogar zunutze machen. Es ist also ein Wechselspiel, das Müller-Armack in dem Gedanken Soziale Marktwirtschaft zusammenfaßt. Erst wenn dieses Wechselspiel zwischen den beiden Prinzipien Freiheit und soziale Gerechtigkeit funktioniert, wird Soziale Marktwirtschaft zu dem, was sie sein soll: ein gesellschaftspolitisches Leitbild, ein Wirtschaftsstil der Moderne. Das Konzept wird zu einem ethischen Programm, das sich nach einem Ideal ausrichtet. Vorweggenommen wird der Gedanke einer Gesellschaft, die komplementär auf Wettbewerb und Sozialpolitik beruht.

Also: Erst die Verwirklichung beider Prinzipien – fairer Wettbewerb und eine soziale Politik – schafft eine humane Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Komplementarität der beiden Elemente Freiheit und Gerechtigkeit – in der Praxis: Wettbewerbs- und Sozialpolitik – ist entscheidend. Gegensätze zwischen den antagonistischen Prinzipen werden überwunden. Damit gewinnt die Soziale Marktwirtschaft eine ethische Bedeutung.

Sie avanciert als Stilgedanke zum sozioökonomischen Imperativ für alle unter ihrer Leitidee lebenden Individuen und Institutionen, dessen Begründung in den explizit aus der christlichen Tradition entwickelten Werten Freiheit und Gerechtigkeit liegt. Dem Wirtschaftsstil Soziale Marktwirtschaft entspricht auf der Ebene des Individuums der Lebensstil des einzelnen, der sich des Wechselspiels bewußt sein soll.

Der Wirtschaftsstil Soziale Marktwirtschaft wird bei Müller-Armack wesentlich breiter gefaßt, als es zunächst in der bloßen Frage nach dem Zusammenspiel von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit verstanden werden könnte. Müller-Armack will, wie er ihn selbst nennt, einen Sozialhumanismus unter der Bedingung der Freiheit schaffen. Dieser soll aber eben nicht allein ökonomischen Kriterien folgen, sondern der Mensch solle sich darin in seiner Grundkonstitution, in seinen Defiziten auch aufgefangen wissen. Um also optimale Rahmenbedingungen für eine solide Gesellschaft zu schaffen, bedürfe es neben einer ökonomischen Sicherung auch einer gesellschaftspolitischen Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung.

Was ist also das Besondere an der Müller-Armackschen Konzeption? Das besondere ist, das sie zwei Extrempositionen vermeidet: Schonungsloser Wettbewerb auf der einen Seite, die Ideologisierung des sozialen Gedankens, die in eine gelenkte Form der Wirtschaft führen und das Funktionssystem Marktwirtschaft ausschalten würde, auf der anderen Seite. Entscheidend ist die gegenseitige Ergänzung und die Flexibilität der beiden Prinzipien.

Was bleibt von Müller-Armack, außer dem Begriff Soziale Marktwirtschaft? Wenn in diesen Tagen der 50. Geburtstag der deutschen Nachkriegsordnung gefeiert wird, sollte bewußt bleiben, daß Müller-Armack beide Elemente – Freiheit und soziale Gerechtigkeit – in einem dynamischen Verhältnis gesehen hat. Die polare Diskussion, die heute zwischen Wettbewerbs- und Sozialpolitikern geführt wird, entspricht nicht dem Geist einer Sozialen Marktwirtschaft im Müller-Armackschen Sinne. Eine solche polare Diskussion führt zu Lähmungen, die überall zu spüren sind.

Soziale Marktwirtschaft ist kein Entweder-Oder, sie ist ein dynamischer Wirtschaftsstil. Sie kann auch auf die aktuelle Lage reagieren: Man darf darüber nachdenken, ob unser Sozialsystem verkrustet ist, man darf darüber nachdenken, ob Tarifstrukturen, die vor einem halben Jahrhundert zu einer besonderen Zeit eingeführt wurden, an die Herausforderungen einer globalen Wirtschaft angepaßt werden können. Man darf darüber nachdenken, ob Arbeitszeitmodelle veraltet sind. Im Sinne Müller-Armacks muß aber betont werden, daß es nicht darum gehen kann, das Sozialgefüge in seinen Grundfesten zu erschüttern. Wer am Sozialsystem rüttelt, bringt das sensibel austarierte Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gerechtigkeit, zwischen Wettbewerb und Sozialpolitik im ganzen zum Einsturz.

Der Name Soziale Marktwirtschaft ist Programm und Verpflichtung. Müller-Armack schreibt Soziale Marktwirtschaft immer groß, eine Tatsache, die wohl zu wenig beachtet wird: Das Soziale gilt nicht als ausschmückende Beiordnung, sondern ist genauso konstitutiv für die gesamte Gesellschaftsordnung, wie der Gedanke der Freiheit. Im Februar 1978, wenige Tage vor seinem Tod, sagt Müller-Armack zu der Frage, ob der Begriff Soziale Marktwirtschaft auch international verwendet werden könne: „Weshalb soll es nicht möglich sein, daß man die Soziale Marktwirtschaft als Terminus technicus schluckt. Dann aber groß geschrieben, das ist eine Bitte, mit der ich schließen möchte.“

Daniel Dietzfelbinger, 1968 geboren, studierte in München und Rom evangelische Theologie. 1997 wurde er mit einer Arbeit über Alfred Müller-Armack zum Dr. theol. promoviert. Demnächst erscheint sein Buch „Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil“ (Gütersloher Verlagshaus).