Zentrums Träume

■ Alles in einem Buch: Das Viertel von der Gründerzeit bis zum Stiefmütterchen in Worten und vielen Bildern

Das eigentliche Zentrum Bremens ist das „Viertel“. Hier schlägt der Puls der Zeit und pumpt die dicksten Döner, die windigsten Skateboards, die schrillsten Frisöre hervor. An den Rückfronten von Cafés, Theatern und Kinos pflanzen Spätachtundsechziger ihre Stiefmütterchen in Terrakottaschalen, um sich im Irgendwo zwischen Arbeitermilieu, Groß- und Kleinbürgertum zu verorten. Das Nebeneinander sozialer Schichten ist seit mehr als 150 Jahren typisch für das Viertel. Die östliche Vorstadt war nie Dorf, sondern „der Teil der Stadt, wo das stattfand, was im Leben der Stadt keinen Platz hatte oder haben durfte“, schreibt Holle Weisfeld in ihrem jetzt bei Tem-men erschienenen Buch „Ostertor-Steintor 1860-1945“. Es gehört zur Reihe der Photographischen Streifzüge, die zum visuellen Spaziergang durch Bremens Geschichte einlädt.

Holle Weisfeld hat mehr als 160 Fotos vor allem aus Privatarchiven zusammengetragen, die die Entwicklung des Viertels in der Zeit zwischen den Gründerjahren und dem Ende des Zweiten Weltkrieges dokumentieren. In einem Text erläutert sie die Sozialgeschichte des Quartiers, das seine wesentlichen Charakterzüge bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts erhielt: Um ein Haar nämlich wäre das Viertel Bahnhofsviertel geworden. Doch der Bremer Senat entschied sich dagegen, den Bahnhof zwischen Dobbengraben und dem Straßenzug „Auf den Häfen“ zu errichten und bestimmte als neuen Standort den Platz vor der Bürgerweide.

Dieser Beschluß kam den Bremer Kaufleuten entgegen, die nach neuen Kapitalanlagen suchten. Nun konnten sie dort Land aufkaufen, wo sich der Geldadel Bremens bereits eingenistet hatte: Schon zur Jahrhundertwende hatten reiche Familien zwischen Contrescarpe und Kohlhökerstraße Sommerresidenzen errichtet, um der Enge der Altsstadt zu entfliehen und die frische Luft des neu angelegten Parks zu genießen. In gemäßem Abstand zu diesem inneren Speckgürtel der Stadt gab es zwischen den traditionellen Handwerksbetrieben und Kleinhändlern des Viertels viel potentielles Bauland. Begierig beäugt von Kaufleuten, denen der Bau von Häusern gewinnbringender schien als etwa Investitionen in Industriebetriebe.

Der Erschließung dieses Gebietes stand jedoch im Wege, daß volles Bürgerrecht nur besaß, wer innerhalb der Stadtmauern lebte. Vorstadtbewohner durften, was dem heutigen Innensenator ein Pläsier wäre, keinerlei öffentliche Ämter ausüben und mußten vor dem Betreten der Stadt eine Torsperre-Gebühr entrichten. Nachdem diese aus dem Mitelalter stammende Verfügung 1848 aufgehoben worden war, entwickelte sich ein bis dahin unbekannter Bauboom in der östlichen Vorstadt: Bauunternehmer stampften Straße um Straße aus dem Boden und säumten diese mit kompletten Häuserzügen, die von Arbeitskolonnen zu einem Festpreis erstellt wurden. Diese völlig neue Vorgehensweise führte zu dem bis heute sichtbaren einheitlichen Baustil der Häuser.

Mitte der 1880er Jahre geriet das Baugeschäft in eine schwere Krise und nährte die Pläne, durch das nunmehr dicht besiedelte Wohnquartier zwecks Anbindung an das Zentrum eine breite Allee zu schlagen. Die Vorstadt sollte zum „prachtvollen Empfangsraum“ für die alte Hansestadt stilisiert werden – eine besonders von den Nazis propagierte Planung, zumal sich mit der Einebnung des Wohngebietes eine „Brutstätte des Marxismus“ zerstören ließe. Der Krieg aber machte die Umsetzung dieser Pläne obsolet.

Ein letzter Versuch, das Zentrum auf Kosten des damals sanierungsbedürftigen Viertels aufzuwerten, wurde in den 60er Jahren mit den Planungen zur Mozarttrasse unternommen.

Doch dann kamen die Terrakottatöpfe, die Kinos, Kneipen und Cafés. Mit den Stiefmütterchen wurzelte sich die Avantgarde ein – und wer wollte ihr noch beikommen? dah

Holle Weisfeld: „Ostertor-Steintor 1860-1945“, Edition Temmen, 29.90 Mark