Sind Sie beschäftigt?
: „Ich würde den Kapitalismus abschaffen“

■ Der 35jährige Vermesser J.M. ist zum erstenmal in seinem Leben arbeitslos. Der anfängliche Optimismus geht langsam in Pessimismus über. „Doch ich werde nicht verzweifeln.“

In Berlin gibt es 290.000 Arbeitslose, nur jeder vierte Einwohner lebt von Erwerbsarbeit. Doch auch wer keinen Arbeitgeber hat, ist nicht ohne Arbeit. Die taz fragt deshalb: „Sind Sie beschäftigt?“

Der 35jährige J.M.: Ich bin zum erstenmal in meinem Leben arbeitslos. Vor vier Monaten ist die Firma im Osten pleite gegangen. Das kam sehr überraschend. Ich bin Vermesser. In der Branche sieht es sehr schlecht aus. Auf eine Stelle kommen 25 Bewerbungen. Am Anfang war ich optimistischer, jetzt werde ich immer pessimistischer. Ich blättere alle Zeitungen durch, ich rufe selber in allen möglichen Vermessungsbüros an und gehe natürlich auch zum Stelleninformationsservice

vom Arbeitsamt. Ich mache alles, was möglich ist, in Berlin und Umland. Aber es sieht schlecht aus.

Zu Ost-Zeiten hatte jeder Arbeit. Jetzt hat die Arbeit einen viel höheren Stellenwert, weil vieles dranhängt wie Zahlbarkeit der Miete. Zu Ost-Zeiten hatten alle mehr oder weniger 800 Mark. Jetzt gibt es welche, die verdienen 4.000, und manche haben eben bloß 800 Mark Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Damit muß man schon lernen umzugehen. Gerade im Bekanntenkreis reißt das auch viel auseinander.

Beschäftigung habe ich schon, ich lese alles mögliche, von Fachliteratur bis Politisches, und kümmere mich um die Wäsche und den Einkauf. Ich mache das aber nur notgedrungen. Ich würde die Politiker abschaffen und das System. Ganz neu aufbauen, ansatzweise so wie früher, ohne Kapitalismus. Der Kapitalismus kann die Arbeitslosigkeit nicht abschaffen. Bei den Wahlen werde ich wahrscheinlich „ungültig“ machen. Finanziell komme ich jetzt noch klar, weil meine Freundin noch arbeitet. Aber ich kann mir vorstellen, daß das hart einschneiden kann. Ich werde jetzt nicht zu Hause verzweifeln und vor Langeweile kaputtgehen. Wenn ich in einem Jahr noch keine Arbeit als Vermesser habe, werde ich mir was anderes suchen müssen. Barbara Bollwahn

wird fortgesetzt