Das Stadion als Ort des Protestes

■ Der iranische Fußballer Gelitsch-Khani bestritt mehr als 90 Länderspiele und lebt heute im Pariser Exil

taz: Wie beurteilen Sie die Chancen der iranischen Mannschaft in der Gruppe mit Deutschland, Jugoslawien und den USA?

Gelitsch-Khani: Das Niveau des US-Teams ist nicht viel höher. Mit viel Glück und Stärke kann die iranische Mannschaft jedoch die USA besiegen. Aber ein solcher Sieg wird weder die Probleme der Islamischen Republik noch die der Bevölkerung lösen.

Versuchen die Machthaber, den Fußball zu instrumentalisieren?

Sie versuchen Nationalgefühle bei den Fans im Iran und im Ausland zu schüren. Vor kurzem ist eine Gruppe von US-Ringern in den Iran eingereist. Überall, sogar im Basar, feuerten die Menschen die amerikanischen Ringer an. Zurückgekehrt in die USA, berichteten diese, sie hätten den Eindruck gehabt, im eigenen Land zu kämpfen. Die Menschen wollten der khomeinistischen Parole „Tod den USA“ etwas entgegensetzen, und um der Hisbollah Grimassen zu schneiden, feuerten sie die Amerikaner an. Dies zeigt, daß besonders in der gegenwärtigen Lage Sport und Politik nicht voneinander zu trennen sind. Das iranische Regime will jeden Sieg im Sport als politischen Sieg über die USA feiern, besonders bei dieser WM.

Welchen Stellenwert hat denn der Fußball im Iran?

Die iranische Mannschaft war vor der Revolution immerhin sechzehn Jahre lang Asienmeister. Damals ist die Zahl der Fußballfans täglich angewachsen.

Was war nach der Revolution?

Als Khomeini an die Macht kam, wurden zunächst die Türen aller Sportverbände geschlossen. Der rückwärtsgerichtete Blick der Mullahs führte dazu, daß Frauensport – die Hälfte des iranischen Sports – in vielen Bereichen wie Reiten, Boxen oder Radfahren bis heute verboten ist. Die Kampfsportarten wurden favorisiert, was mit dem Kampfgeist der frommen Muslime begründet wurde. Tatsächlich gab es in den ersten fünf bis sechs Jahren kaum sportliche Aktivitäten. Dann verschaffte sich der Sport langsam mehr Respekt.

Wie verhielten sich die Mullahs angesichts dieser Entwicklung?

Das islamische Regime versuchte, den Sport für seine Interessen auszunützen. Deswegen bekamen nur Hisbollah-Anhänger verantwortliche Posten. Die Spieler wurden gezwungen, sich an religiösen Zeremonien zu beteiligen. Die Islamische Republik hat durchaus Interesse, auf der internationalen Bühne des Sports präsent zu sein.

Und die Fußballfans wurden alle Hisbollah-Anhänger?

Natürlich nicht. Wegen des ungeheuren Drucks, der in allen gesellschaftlichen Bereichen auf ihnen lastet, nutzen die Fans und die Bevölkerung im allgemeinen jede Möglichkeit, ihrem Protest Ausdruck zu verleihen.

Kam es zu direkten Auseinandersetzungen mit dem Regime?

Mehrfach in den letzten Jahren entwickelten sich die Fußballstadien zu Arenen, in denen gegen das Regime protestiert wurde. Hunderttausende nutzten die Gelegenheit, ihren inneren Druck durch lautes Schreien loszuwerden. Wenn der Schiedsrichter nur einen kleinen Fehler machte oder Konflikte zwischen Spielern auftauchten, reagierten die Fans und äußerten ihren Haß auf das islamische Regime. Oft wird alles im Stadion demoliert, weil dort die Polizei kaum Möglichkeiten hat, einzelne zu verhaften, zumindest nicht aus politischen Gründen.

Hat sich der Fußball zum Nationalsport des Iran entwickelt?

Eigentlich ist der Ringkampf die traditionelle Sportart, aber das Fußballspiel ist bei allen Schichten der Bevölkerung beliebt. Ob reich oder arm, ob Hisbollah oder Säkularist, der Fußball kann eine Einheit in der Bevölkerung schaffen. Deswegen versucht das islamische Regime, den Fußball bei der WM zu mißbrauchen, um seine tödlichen und zerstörerischen Verbrechen der letzten zwanzig Jahre zu kaschieren. Sie haben über dreißigtausend junge Menschen in den Gefängnissen hingerichtet, Hunderte Menschen im Ausland gezielt ermordet, und diese Verbrechen sollen vertuscht werden.

Prof. Udo Steinbach, ein Iran- Experte, hat gesagt, laßt den Iran gewinnen, und die Iraner werden eine Revolution durchführen.

Das ist ein guter Witz, aber in Europa können die Fußballfans auch nicht eine Regierung stürzen. Der Gedanke ist grundsätzlich falsch, weil das Regime selbst versucht, die Bevölkerung für den Fußball zu interessieren, um sowohl vom Sieg als auch von einer Niederlage profitieren zu können.

Wie geht das Regime dabei vor? Das ständige Wechseln des Trainers ist ein gutes Beispiel. Sie setzten einen ausländischen Trainer ein, dann setzten sie ihn wieder ab, dann kam ein Hisbollah-Trainer, und wenn der Iran am Ende verliert, können sie sagen, es sind die Einzelpersonen schuld. Tatsächlich wird sogar der Fußball vom iranischen Nachrichtendienst kontrolliert, um jede Wendung zugunsten des Regimes zu organisieren. Und wenn die iranischen Fußballer gewinnen sollten, sagen sie, daß der Sieg aufgrund der richtigen Führung der Hisbollah zustande gekommen ist.

Darauf fallen die Leute rein?

Ich bin mir sicher, daß die iranische Bevölkerung diese Machenschaften sehr genau verstanden hat. Als sich der Iran vor wenigen Monaten gegen Australien qualifizierte, verteilten die Menschen Süßigkeiten auf den Straßen, sie tanzten auf den Autos, junge Frauen warfen ihren Schleier weg, manche steckten aber auch Autos in Brand. Insgesamt äußerten viele Menschen ihren Freiheitswillen. Aber zu einem Sturz der Regierung werden die Fußballspiele sicher nicht führen. Interview: Wahied Wahdathagh