Den Tag schieben

■ „Übers Eis“: Der 1. Teil von Peter Kurzecks tetralogischer Autobiographie

Nach acht Jahren ist Sibylle nicht mehr seine Frau, sondern die Mutter seiner Tochter. Statt in einer Wohnung lebt er nurmehr in einer Abstellkammer. Und da ein Unglück selten allein kommt, verliert er außerdem seinen Job in einem Antiquariat. Wir schreiben das Jahr 1984. Big brother is not watching him, aber für den Ich-Erzähler aus Peter Kurzecks Roman Übers Eis wäre die düstere Orwellsche Vision eines Überwachungsstaats wahrscheinlich leichter zu ertragen als diese Ansammlung persönlicher Katastrophen.

In depressiver Grundstimmung macht sich der Erzähler auf den Weg durch das unwegsame Gelände seiner Erinnerungen. Auf den Spaziergängen durch seine Wahlheimat Frankfurt/M. verfolgt er die Spuren der zurückliegenden Monate, „immer wieder das Geld und die Sorgen zählen“, tagsüber Bücher verkaufen, nachts schreiben.

Peter Kurzeck, Jahrgang 1943, kam 1947 als Kind böhmischer Flüchtlinge in das oberhessische Staufenberg. Der Eindruck einer gewaltsamen Entwurzelung setzt sich fort in einer zerstümmelten Syntax. Die Sätze sind protokollarisch, abgehackt: „Gebückt eine alte Frau. Schiebt einen Kinderwagen. Schimpft, hat eilig den Tag zusammengepackt, schiebt schimpfend den Tag vor sich her.“ Mit Buchhalter-Mentalität notiert er beim Anblick eines griechischen Ladens: „Ollämpchen, Waschbecken, Kochplatte, Schafwolle, Flickenteppich, Strickzeug“. Mit seiner manischen Gründlichkeit in der Beschreibung bringt der Erzähler das Treiben auf der Straße zum Stillstand. Doch neben der spröden Prosa finden sich immer wieder Sätze von lyrischer Verspieltheit oder ironischer Selbstdarstellung.

Übers Eis ist der erste Teil einer autobiographischen Tetralogie. Das dünne Eis des Peter Kurzeck ist die Sprache, und er treibt das Projekt des Sich-Selbst-Schreibens auf eine existenzielle Spitze: Als ob es ihn und die Welt ohne sein Schreiben gar nicht gäbe. Nur manchmal überkommen den Autor daran Zweifel, wenn das „Haus zittert und bebt“. Dann nimmt der Großstadtflaneur sich selbst zurück und beobachtet, „wie sich der Tag in den Schaufenstern spiegelt.“

Joachim Dicks

Peter Kurzeck: „Übers Eis“, Stroemfeld/Roter Stern-Verlag, Basel/Frankfurt/M. 1997, 325 Seiten, 38 Mark. Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus