Postfamiliale Familien

Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt die Familie im Zeitalter der Individualisierung als permanenten Entwurf  ■ Von Ute Scheub

„Was kommt nach der Familie?“, so heißt der Titel des neuesten Buches der Erlanger Familiensoziologin Elisabeth Beck- Gernsheim. Die Antwort formuliert sie bereits auf Seite 18: „Die Familie! Anders, mehr, besser, die Verhandlungsfamilie, die Wechselfamilie, die Vielfamilie, die aus Scheidung, Wiederverheiratung, Scheidung, aus Kinder deiner, meiner, unserer Familienvergangenheiten und -gegenwarten hervorgegangen ist...“

Der Individualisierungsschub der Moderne, so ihre grundlegende These, habe ein neues Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch auf Autonomie und der Sehnsucht nach Nähe entstehen lassen. Das alte Modell einer lebenslangen Bindung sei durch die stetig steigende Anzahl von Scheidungen und Trennungen zugunsten von Formen des Zusammenlebens auf Zeit ersetzt worden. Die Scheidungsentwicklung sei ein „sich selbst vorantreibender Prozeß“: Angesichts der „Normalisierung von Scheidung“ gerate die Aufrechterhaltung der Ehe unter Rechtfertigungsdruck und treibe die „Maßstäbe, an denen Glück bemessen wird, weiter nach oben“. Zudem vermehrten Geschiedene die Anzahl potentieller neuer Partner.

Die Folge: „Während man in der Vergangenheit auf eingespielte Regeln und Rituale zurückgreifen konnte, beginnt heute eine Inszenierung des Alltags, eine Akrobatik des Abstimmens und Ausbalancierens. Im Ergebnis wird der Familienverband fragil, ist vom Auseinanderbrechen bedroht, wo die Abstimmungsleistungen nicht gelingen.“ Das alles führe, so Beck-Gernsheim in Anlehnung an Habermas, zur „neuen Unübersichtlichkeit“.

Eine Kategorie, die eher von Hilflosigkeit als von analytischer Klarheit zeugt. Waren die Verhältnisse je übersichtlich? Was könnte mehr dem ständigen Wandel unterliegen als die menschlichen Lebensformen? Die Autorin gibt es selber zu: Auch in früheren Jahrhunderten habe es vielerlei Lebensformen gegeben, schreibt sie. Unübersichtlich war auch die Anzahl der Mätressen und Nebenfrauen der Adligen. Und das angeblich so alte Leitmodell der Kleinfamilie – Vater, Mutter und leibliche Kinder – ist gerade mal an die zweihundert Jahre alt, es entstand erst mit dem Aufstieg des Bürgertums.

Historisch neu ist also nicht die Unübersichtlichkeit, sondern die Verwandlung äußerer Normen in innere Zwänge. Früher war Heiraten und Kinderkriegen eine selbstverständliche Bürgerpflicht, heute muß jeder und jede selbst entscheiden, was er oder sie tut. Unter den „Individualisierungsbedingungen“ der Moderne werde das Leben auf diese Weise zum „Planungsprojekt“, schreibt Beck-Gernsheim: „Die Vorgabe heißt: Planen! Die Zukunft in den Griff kriegen! Den Zufall abwenden, selbst steuern und lenken!“ Das ist sicher richtig, aber man könnte auch noch weitergehen und behaupten, daß dieser Prozeß etwas Ähnliches sei wie eine zweite Reformation, die Reformation der Lebensformen. Martin Luther verlagerte die äußeren religiösen Verhaltensnormen auf die innere Gewissensinstanz und schuf damit die Voraussetzungen für das kapitalistische Arbeitsethos.

Die heutige Ideologie der Globalisierung und Individualisierung verlangt dem einzelnen ab, gesellschaftliche Risiken als individuelle umzulügen: Wer unter Erwerbslosigkeit oder Armut durch Kinderreichtum leidet, ist letztlich selber schuld, er oder sie hätte ja rechtzeitig vorsorgen, sich weiterbilden, verhüten oder sonst etwas unternehmen können.

Die Konsequenzen dieses neuen reformatorischen Denkens beschreibt die Soziologin wiederum sehr drastisch: „Die neue Elternpflicht heißt ,Optimale Startchancen fürs Kind‘“. Früher habe es noch nicht einmal eine Vorstellung von Kindheit gegeben, heute hingegen seien Kinder zur „knappen Ressource“ geworden, die schonend behandelt und auf allen Ebenen umfangreich gefördert werden will.

Die gestreßten Eltern fühlen sich verpflichtet, pädagogische Fachbücher zu wälzen und zwischen musikalischen Früherziehungsübungen, Vorsorgeuntersuchungen und Computerkursen hin- und herzurasen, um ihrem Nachwuchs keine „Chance“ zu ersparen. Elternschaft in der Moderne sei „von Theorien umgeben, von Experten umzingelt“, schreibt Beck-Gernsheim.

Eine besonders fragwürdige Rolle spielen in ihren Augen die Pränataldiagnostiker: „Schon heißt es, im Fall eines genetischen Defekts sei die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ein Akt der ,Fürsorge fürs ungeborene Kind‘“. Aus der „guten Hoffnung“ von einst werde dadurch die „Schwangerschaft auf Probe“. Daß Eltern solch einem Druck nachgeben, daß sie sich am liebsten optimale Kinder mit dem richtigen Geschlecht (männlich) und der richtigen Hautfarbe (weiß) zusammenbasteln würden, liegt für Beck- Gernsheim letztendlich in der Logik dieses neuen Denkens der „optimalen Startchancen“.

Die neuen Lebensmöglichkeiten garantieren also neue äußere Freiheiten verbunden mit neuem inneren Streß. Nichts ist mehr sicher, alles muß erwogen, ausgehandelt, immer wieder neu definiert und entschieden werden. Das gilt auch und besonders für die „multikulturelle Familie“, die die Autorin im letzten Abschnitt ihres lesenswerten und anregenden Buches behandelt. Schließlich seien auch die Kategorien „Schwarzer“, „Weißer“ oder „Jude“ „emotional aufgeladen, erweisen sich als gesellschaftliche und politische Konstruktionen“, das beweist sie mit Exkursen in die Geschichte der USA oder des deutschen Nationalsozialismus. Multikulturelle Familien müßten also, welch anstrengende Aufgabe, nichts weniger als die „Konstruktion einer neuen interkulturellen Wirklichkeit“ leisten.

Elisabeth Beck-Gernsheim: „Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen“. Beck'sche Reihe, München 1998, 196 Seiten, 17,80 DM