"Bis alles perfekt ist"

■ Sensibelchen, Genie, Pflegefall: Ohne Beach Boy Brian Wilson wäre die Musik der letzten 40 Jahre weniger süß und nur halb so spannend geworden. Mit "Imagination" wagt er ein Comeback. Ein Gespräch mit dem Vibemaste

Ein Brian-Wilson-Comeback kurz vor der Jahrtausendwende – wer hätte das gedacht! Waren Sie zwischenzeitlich nicht schon in Rente?

Fast, haha, aber nicht wirklich. Schließlich mache ich immer irgendwie Musik. Ich habe sie einfach in mir – in meinen Adern und Venen. Von daher kann ich gar nicht anders, als ständig irgendwelche Songs zu schreiben. Aber nicht alle eignen sich auch zur Veröffentlichung.

„Imagination“ ist bereits Ihr zweiter Solo-Anlauf. Der erste verlief 1988 so enttäuschend, daß Sie sich aus der Musikszene zurückgezogen haben.

Das letzte Album ist wirklich schlecht gelaufen, obwohl wir dafür einen riesigen Aufwand betrieben haben. Was „Imagination“ betrifft, so steckt darin so viel Liebe, daß es sich einfach gut verkaufen muß. Glaub mir: Dieses Album wird gigantisch – weltweit. Es ist wahrscheinlich das beste, das ich jemals aufgenommen habe. Ich denke, es wird ein richtiges Monster-Album.

Auch in kommerzieller Hinsicht?

Im Grunde hatte ich gar keine andere Wahl, als ein kommerzielles Album aufzunehmen. Ich war schließlich schon seit Jahren nicht mehr in den Charts. Es gibt da diese feine Trennlinie zwischen Kunst und Kommerz. Und manchmal ist es wirklich nicht einfach, sich für eines von beiden zu entscheiden. Ich tendiere ohnehin eher zum Mittelweg...

Der Song „Sunshine“ wird in Dänemark für eine Softdrink- Kampagne eingesetzt. Sind Sie sich dafür nicht zu schade?

Wie bitte?

Er taucht in einem „Sunkist“- Spot auf...

Oh, das wußte ich gar nicht, das ist wundervoll...

Tatsächlich?

Ja, großartig... So etwas macht mich richtig glücklich!

Müssen Sie sich nach all den Jahren eigentlich noch großartig anstrengen, um einen Song zu schreiben? Oder ist das inzwischen tägliche Routine?

Also ich schreibe eigentlich eher monatlich... Scherz beseite: Gute Songs sind immer noch etwas ganz Besonderes. Schließlich muß ich mich zunächst einmal in einen bestimmten Zustand versetzen, um überhaupt eine richtige Idee zu entwickeln. Ich meine, es ist ein echtes Ereignis. Manchmal brauche ich eine Woche, manchmal zehn Minuten, dann wieder eine halbe Stunde... Das Allerwichtigste ist jedoch die Inspiration. Wenn ich am Klavier sitze, vertone ich das, was sich vor meinem geistigen Auge abspielt...

Hat „Imagination“ eine Art Message?

Ja! „Happy days are here again.“ Das ist ein Track, der mit einem dunklen Part beginnt und dann immer fröhlicher und optimistischer wird. Es ist wie im richtigen Leben: Selbst auf die dunkelsten Nächte folgt immer heller Sonnenschein. Und du weißt, daß du das, was du vor ein paar Jahren durchgemacht hast, nicht noch einmal erleben mußt. Genau das besagt der Song: „Happy days are here again, the sky is blue and clear again...“ Ich bin heute definitiv viel glücklicher als damals.

Ein Song wie „Lay Down Burden“ erweckt eher einen gegenteiligen Eindruck...

Das ist ja auch ein trauriger Song, der auf einem schmerzlichen Erlebnis beruht: Der Verlust meines Bruders Carl. Es geht aber nicht nur um ihn, sondern ganz allgemein um menschliche Gefühle...

Wie stehen Sie zu den Sechzigern, der Zeit mit den Beach Boys?

Ganz ehrlich: Ich sehne mich danach zurück. Ich wünschte, ich könnte die Sechziger noch einmal erleben.

Warum?

Nun, allein schon wegen der tollen Platten, die damals entstanden sind. Es gab so viele großartige Künstler, die mir regelrecht das Hirn durchgeblasen haben.

Aber im Vergleich zu den Pop- und Rock-Ikonen der Sixties wirkten die Beach Boys doch immer geradezu unschuldig...

Ja, genau das war unser Image: Wir waren brave amerikanische Jungs.

Wann und wie habt ihr euch letztlich davon befreit?

Irgendwann in den frühen Siebzigern. Plötzlich war es weg – wir haben es einfach unterwegs verloren. Obwohl: Irgendwie klammern wir uns noch immer daran.

In den Endsechzigern wollten Sie die Welt mit spiritueller Liebe beglücken. Verfolgen Sie diesen Ansatz etwa noch immer?

Ja! Es ist derselbe Zyklus. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber die Sechziger und die Neunziger sind sich auf eine gewisse Art sehr ähnlich. Und das verleitet mich dazu, jetzt festzuhalten, was damals war. Darum geht es auf diesem Album: Ich erinnere mich an die glücklichsten Momente meines Lebens...

Stimmt es, daß Sie zu Hause am liebsten „Be My Baby“ spielen?

O ja. Mindestens einmal täglich. Das gilt auch für Stücke von Chuck Berry und George Gershwin.

Hören Sie demnach überhaupt keine aktuelle Musik?

Nicht wirklich... Im Grunde gibt es derzeit nichts, was mich sonderlich inspirieren würde. Allerdings höre ich auch keine neuen Platten, höchstens mal Radio. Wenn ich in Los Angeles bin, schalte ich automatisch KLAC ein. Und die spielen nichts aus der Zeit nach 1962.

Ist das Album deshalb so altmodisch – weil es die Gegenwart regelrecht negiert?

Ich lebe nun mal in meiner eigenen Welt. Daher habe ich keine Ahnung, wie die Platte bei den Leuten und den Medien ankommt. Auf jeden Fall klingt sie irgendwie anders. Ob das nun gut ist oder schlecht, kann ich nicht beurteilen.

Obwohl der Sound nicht danach klingt, basiert er doch auf dem Einsatz modernster Studiotechnik. Ist es heutzutage einfacher, den perfekten Popsong zu schreiben, oder arbeiten Sie nach wie vor analog?

Nein, nein, so rückständig bin ich nun auch wieder nicht, haha. Ich habe da dieses Keyboard, das mit einem Computer verknüpft ist. Und der notiert exakt, was ich spiele. Ich ziehe ein Register auf dem Keyboard, spiele Oboe oder Klarinette und höre nicht eher auf, bis alles perfekt ist. Wenn ich dann so weit bin, überspiele ich das Ganze auf den Computer, drucke es aus und suche mir einen Musiker, der den Part nachspielt. Das ist natürlich einfacher als in den Sechzigern. Damals standen bis zu 40 Leute im Studio herum, die auf meine Anweisungen warteten. Trotzdem hat es mehr Spaß gemacht, denn es war ja alles live. Ich habe das sehr gemocht... Andererseits ist heute mehr Zeit vorhanden. Ich kann nach meinem eigenen Rhythmus arbeiten und muß nicht binnen zwei Wochen ein komplettes Album abliefern.

Wie lange würde es 1998 dauern, einen Song wie „Good Vibrations“ aufzunehmen, an dem Sie damals fast sechs Monate gearbeitet haben?

Etwa zwei Tage.

Kennen Sie „Cold And Bouncy“ von den High Llamas, ein Album, das stark von Ihrem 66er Meisterwerk „Pet Sounds“ beeinflußt ist?

Ich habe diesen Typen irgendwann mal getroffen. Sein Name ist Sean O'Hagan, er ist ein netter Kerl. Das Album habe ich allerdings nie gehört, weil mir bislang noch niemand ein Exemplar davon hat zukommen lassen. Ich glaube, ich hab' da was verpaßt. Nach allem, was man so hört, muß es wirklich wundervoll sein.

Momentan gibt es etliche Bands, die sich auf Sie berufen: XTC, Velvet Crush, Cornelius oder auch Garbage. Letztere haben in ihrem Hit „Push It“ sogar ein Sample aus „Don't Worry Baby“ verwendet. Ist Ihnen diese Art der Aufmerksamkeit wichtig?

Es ist etwas, das ich definitiv viele Jahre vermißt habe. Ich habe Phasen durchgemacht, in denen ich ernsthafte Zweifel hegte, ob mich überhaupt jemand mag. Deshalb war ich ja auch so begeistert, als David Lee Roth „California Girls“ aufnahm. Es war eine sehr gute Version...

Es stört Sie also nicht, ständig und überall zitiert zu werden?

Absolut nicht. Ich fühle mich sehr geehrt.

Auf „Imagination“ befinden sich auch zwei Beach-Boys-Songs von 1964/65. Haben Sie vor, in Zukunft weitere Klassiker neu aufzunehmen?

Darüber bin ich mir noch nicht ganz im klaren. Möglicherweise werden wir für das nächste Album ein oder zwei Beach-Boys-Nummern einspielen, eventuell sogar „This Whole World“ – das ist einer meiner Lieblingssongs.

Wie ist denn die momentane Situation bei den Beach Boys?

Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie sind immer noch auf Tour. Doch ohne Carl wird es nie wieder so sein, wie es war. Mike [Love, der Cousin; Anm. d. Red.] hat daran angeblich hart zu knabbern. Ich habe allerdings noch nicht mit ihm gesprochen.

Ihre Weggefährten wie Bob Dylan, John Fogerty und James Taylor wurden im letzten Jahr mit Grammys ausgezeichnet. Wie kommt es, daß Ihnen diese Ehre bislang verwehrt blieb?

Puh, keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, ob ich jemals einen Grammy kriegen werde. Vielleicht mit etwas Glück. Ich freue mich aber für die anderen – ehrlich: Ich bin wirklich sehr stolz auf sie.

Paul McCartney hat eine Sinfonie geschrieben, Billy Joel arbeitet noch daran. Könnten Sie sich ein ähnliches Projekt vorstellen?

Das ist gar nicht mal unwahrscheinlich. Ich trage schon seit längerem ein Musical mit mir herum: „Saturday Morning In The City“. Ich bin derzeit auf einem regelrechten Musical-Trip und schreibe Songs in der Tradition der zwanziger und dreißiger Jahre, so eine Art klassische Rogers- und Hammerstein-Nummern. Die Musicals sind ein Teil von mir. Ich steh' unheimlich darauf, bringe sie aber einfach nicht zu Papier. Vielleicht schmuggeln wir statt dessen ein paar Musical-Melodien auf das nächste Album – wir könnten es zumindest versuchen...

Stört es Sie, daß Ihr Name bis heute eher mit Surfbrettern als mit musikalischen Meilensteinen wie „Pet Sounds“ assoziiert wird?

Ja und nein. Schließlich habe ich mich viele Jahre für „Pet Sounds“ geschämt, weil ich darauf wie ein Mädchen klinge. Wenn ich heute auf einer Party bin, und jemand legt einen Song aus diesem Album auf, dann muß ich den Raum verlassen. Ich kann es einfach nicht ertragen, mir selbst zuzuhören. Interview: Marcel Anders