Brian Wilsons kalifornischer (Alp-)Traum

Erstes Gebot des Fanwesens: Du sollst deine Mythen lieben wie dich selbst. Doch wo die Legenden blühen, wächst das Historisierende auch. Zwei der um ein Brüdertrio herumgebauten Beach Boys sind bereits tot, der dritte der Wilsons, das Popgenie mit dem allamerikanischen Namen Brian, trägt heute noch an der Bürde der Sechziger, in denen seine Band größer als die Beatles sein wollte, ohne je deren bübische Leichtigkeit zu erreichen. Während nämlich John Paul hatte und Paul John, ruhte die Last der Beach-Boys-Liedfabrikation immer ganz allein auf Brian, dem Songschreiber und Hitesel.

Brian war Ernährer und Idiot der Familie zugleich. In „Mein kalifornischer Alptraum“, seiner 1991 erschienenen Autobiographie, hat er beschrieben, wie die Beach Boys weniger als Gang- oder Posse-Zusammenhang denn als irgendwie inzestuöse Brüder- und Vetternverbindung zustande kamen, vorangepeitscht von einem despotischen Vater, der sich selbst zum „Manager“ ernannt hatte. Wenn ein Wesenszug der Sechziger in der Rebellion gegen Mom und Dad besteht, dann waren die Beach Boys das Gegenteil einer Sixties-Combo: brave Jungs mit Seitenscheiteln und Zahnpastalächeln, deren Bravster unter dem Zwang, Vaters Wille mit einer explodierenden Welt da draußen (nicht double, mindestens triple bind!) bei gleichbleibendem Hit-Output zu versöhnen, allmählich zum Drogenmonster elvisscher Dimension verkam.

Daß Brian sich nur mit Hilfe eines guruähnlichen Psychodoktors von diesem Trip wieder herunterbrachte, hat seiner Neigung zu kalifornischer Strandhymnik merkwürdiger- wie konsequenterweise keinerlei Abbruch getan. Er ist und bleibt ein Idylliker. Noch „Imagination“, sein gerade erschienenes Spätestwerk, betreibt die Verklärung von Wind, Wellen und gutem, sauberen Leben, als sei das nun einmal seine historische Leistung, als könne er immer nur denselben alten Traum träumen, bloß farbiger, plastischer, hypertropher, mit allerfeinster Studiotechnik zum Kunstlied emporgestaltet, das in einem Kunstkalifornien der Orangenkisten und Fruchtsaftsonnenuntergänge spielt. Beachboytum als Schicksal und Syntheseleistung. „You know it's just your imagination running wild“, heißt der Refrain des Eröffnungs- und Titelstücks, den Wilson mehrstimmig mit sich selbst singt. Live gaben zuletzt Ex-Eagles die Ersatzfamilie.

Das macht die Songs auf „Imagination“ so süffig, klassisch, opulent, gibt ihnen aber auch dieses klaustrophobische Moment von Angst- Pop. Je mehr Brian Sound auf Sound schichtet, schaltet und waltet in seinem Heimstudiospielzeug (jetzt endlich auch digital!), desto klarer wird bloß, daß der Beach- Boys-Song in all seiner neurosengrundierten Großartigkeit kein entwicklungsfähiges Modell darstellt. Er ist im Wortsinn perfekt, kann nicht getoppt oder überwunden werden, er kann sich bloß produktionstechnisch noch einmal selbst überrunden – als Melodie einer verlorenen Kindheit, einbalsamiert in ewiger Süße. tg