Bomben statt Bildung

In Südasien ist weniger die Armut, als vielmehr fehlender politischer Wille dafür verantwortlich, daß in dieser Region fast die Hälfte aller Analphabeten leben  ■ Aus Neu Delhi Bernard Imhasly

Es gibt drei kleine Schulen in Jamunapushta. Für mehr gibt es in diesem Slum von Neu Delhi keinen Platz. 150.000 Menschen wohnen hier, dichtgedrängt zwischen dem Jamuna-Fluß und der Ringstraße. Jeder freie Quadratmeter ist durch eine winzige Hütte besetzt. Die engen Gassen sind gerade breit genug, damit sich Menschen – und Abwasser – hindurchzwängen können. Sie sind hier der einzige freie Raum und daher der Ort, wo nun Gassenschulen entstehen.

Aus der Raumnot hat die private Hilfsorganisation Navjyoti, die die Schulen betreut eine Erziehungstugend gemacht. Jugendliche erhalten mit Abschluß der zehnten Klasse eine Tafel und 250 Rupien im Monat, um täglich zwei Stunden in einer Gasse Unterricht zu geben. Sie bringen den Straßenkindern nicht nur das ABC bei, sondern sind auch verantwortlich, daß diese die Gasse sauber halten und die organischen Abfälle in die Biogasanlage bringen.

Die Gassenschulen von Jamunapushta sind in Südasien eines der unzähligen Beispiele dafür, daß private Hilfswerke den beschämenden Bildungsstand der Region zu heben versuchen. Nach Angaben des Human Development Centre in Islamabad ist die Region heute hinter den Entwicklungsstand von Afrika südlich der Sahara zurückgefallen und die „ärmste, am stärksten analphabetische, am schlechtesten ernährte und frauenfeindlichste Region der Welt“.

Schon in ihrem ersten Bericht hatten die Autoren Mahbub und Khadija al-Haq 1997 gezeigt, daß die meisten Indikatoren von Unterentwicklung – hohe Kinder- und Müttersterblichkeit, rasche Bevölkerungszunahme, geringe Arbeitsproduktivität – mit der Vernachlässigung der Erziehung, allen voran der Grundschulbildung, einhergehen. Den Zustand bezeichnen die Autoren als „empörend“: Fast die Hälfte aller Analphabeten der Welt leben in Südasien – 395 Millionen Ewachsene, 60 Prozent davon Frauen und 50 Millionen Kinder. Mahbub al-Haq, früherer Weltbank-Direktor und pakistanischer Finanzminister, sprach bei der Präsentation der Studie in Neu Delhi von einer „Erziehungseinöde“: „Jeder zweite Erwachsene kann weder lesen noch schreiben, eines von drei schulpflichtigen Kindern geht nicht zur Schule, zwei von fünf Kindern verlassen die Schule vor der fünften Klasse.“ Die Schulen selbst seien ein „Katastrophengebiet“: So kämen 40 Prozent der Lehrer in Assam nur am Zahltag in die Schule, und in Pakistan seien 80 Prozent der Schulabgänger nicht imstande, einen einfachen Brief zu schreiben.

Die Autoren zeigen in einem Vergleich mit anderen Staaten Asiens, daß diese ihren wirtschaftlichen Aufstieg der Investition in Grundschul- und technische Bildung verdanken. Und sie zitieren den Ökonomen Lawrence Summers: „Wenn man alle Faktoren berücksichtigt, erzielt die Erziehung von Mädchen wahrscheinlich den höchsten ökonomischen und sozialen Gewinn unter allen Investitionen, die einem Entwicklungsland heute zur Verfügung stehen.“ Andere Studien zeigen, daß mit jedem zusätzlichen Schuljahr die Löhne für Frauen um 10 bis 20 Prozent steigen, die Kindersterblichkeit und die weibliche Fruchtbarkeitsrate um je 10 Prozent abnehmen.

Warum ist diese Region, in der heute jeder sechste Weltbewohner lebt, so zurückgefallen? Armut allein, sagen die Autoren, ist es nicht: Vietnam und Kenia sind ärmer, aber erfolgreicher in der Bildung. Der südindische Staat Kerala und Sri Lanka haben heute fast hunderprozentige Schulbildung, sind aber ärmer als etwa der nordindische und pakistanische Punjab. Kulturelle Faktoren wie etwa der buddhistische Einfluß in Sri Lanka und jener des Christentums in Südindien mögen eine Rolle spielen. Noch wichtiger aber ist, neben der religiös begründeten Diskriminierung der Frau im Islam, das Kastendenken. Bildung war in Indien immer ein Privileg der Brahmanen und begründete ihre Machtstellung. Diese Haltung wirkt bis heute. Ein Junge aus der städtischen Mittelschicht hat eine 90prozentige Chance für einen Schulabschluß – ein unterkastiges Mädchen auf dem Land dagegen nur zu 17 Prozent. Die Hälfte des indischen Erziehungsbudgets und damit mehr als für die Grundschulen geht in die höhere Bildung. Durch diese „auf den Kopf gestellte Erziehungspyramide“ produziert Indien damit sechsmal mehr Universitätsabsolventen als China, schließt aber die Hälfte der Kinder aus. Von den Hochschulabsolventen wandern zudem viele ins Ausland ab: In den USA kommt auf 1.125 Einwohner ein indischer Arzt, in Indien sind es über 4.000 Personen.

Das Autorenpaar schlägt einen Plan vor, wie in fünf Jahren dieser Bildungsnotstand korrigiert werden kann. Es fordert von den Regierungen – allen voran jenen Indiens und Pakistans – ein Einfrieren ihrer Verteidigungsbudgets. Sie liegen für die Atomstaaten Indien und Pakistan bei 12 Milliarden US-Dollar. Schon ein Stopp des Wachstums der Verteidigungsetats würde weit mehr als die eine Milliarde Dollar pro Jahr bereitstellen, die nötig sind, um in den nächsten fünf Jahren 65 Millionen Kinder einzuschulen, zwei Millionen Lehrerinnen auszubilden und besser zu bezahlen und informelle Schulen wie die von Jamunapushta zu fördern.

Verantwortlich für den bisherigen Mißerfolg ist der fehlende politische Wille der Regierungen und Eliten. Solange diese nicht bereit sind, Grundschulbildung zur nationalen Priorität zu machen, werden alle Strategien wenig nützen. Nirgends wird dies so deutlich wie daran, daß die 50jährige indische Verfassung Schulbildung zur staatlichen Pflicht macht, daß aber bis heute kein Ausführungsgesetz besteht, das dies auch für die Gliedstaaten durchsetzbar macht. Tausende von Organisationen wie Navjyoti sind eingesprungen, wo der Staat versagt hat. Doch angesichts der Größe der Länder hat nur dieser die Ressourcen, um signifikante Fortschritte zu erzielen.