Schickt Deutschland nach Hause

■ Charmante Idee: Wenn das Nationalteam von der WM abgezogen würde, dann wäre schnell klar, ob sich noch einer zu hoolen traut

Es war wirklich ein verdammt unangenehmes Gefühl, an diesem Sonntag mittag durch die Innenstadt von Lens zu gehen. Freunde hatten von dem sehr speziellen Charme des französischen Kohlestädtchens erzählt, von seiner lustigen Hauptstraße. Es war dann aber nicht lustig. Das lag nicht nur an ein paar aggressiven Gesichtern, an herumgeworfenen Tischen und Stühlen. Es lag auch daran, daß die Stadt so klein ist, daß man den Eindruck hatte, sie sei voller knüppelschwingender Polizisten. Es fühlte sich irgendwie gar nicht an, als seien die Herren zur Sicherheit der Braven und Guten da, es fühlte sich alles nur unangenehm an.

Allerdings nicht unangenehmer als sonst auch.

Vielleicht ist das das Problem. Man ist schon viel zu sehr bereit, das Obszöne als üblich, eingeführt, gewohnt oder alltäglich zu betrachten. Es ist auch das spezielle Problem all jener, die sich tatsächlich in der einzigen Absicht an einen Ort, in ein Stadion begeben, um ein Fußballspiel zu sehen. Sie wollen die mit den anderen Interessen nicht haben. In der Hoffnung, daß sie dann verschwinden, machen sie die Augen zu. Das gilt auch für Fußball-Korrespondenten, die in dem Moment, da das Spiel beginnt, natürlich im Stadion zu sein haben. Erstens, weil sie über das Spiel zu berichten haben. Zweitens, weil sie Fußball sehen wollen.

Überhaupt: Wenn irgendein Deutscher im Ausland — besoffen oder nicht — jemanden schwer verletzt oder tötet – was geht das mich an? Ist es anders, wenn es um eine Fußball-WM geht? Sagen wir so: Falls mich ein WM-Titel des deutschen Verbandes etwas angeht – ja.

Ein englischer Schläger hat auf die Frage, warum er hoole, geantwortet: Weil es das ist, was wir tun. Soziologen müssen im Einzelfall klären, ob es die Frustration und Entfremdung jener ist, die man von einem Arbeitsplatz, einer Perspektive in dieser Gesellschaft und damit inzwischen auch vom Spiel ausgeschlossen hat. Ob es um Spaß geht oder politischen Zwecken dient.

Der englische Hool hat auch gesagt, die „Franzosen wären Krauts, wenn die Engländer nicht gewesen wären“. Daraus folgt: Vielleicht sind Deutsche, die europäische Städte belästigen, eben doch noch etwas anderes als Engländer, selbst wenn die Konsequenzen die gleichen sind.

Einige hochangesehene seriöse englische Zeitungen konfrontierten die Öffentlichkeit nach den Ausschreitungen von Marseille mit einer interessanten Idee: „Schickt England nach Hause“, schlagzeilte nämlich der Guardian, und der Independent schloß sich an. Das ist nichts weniger als die Forderung an einen Staat und seine Bürger, sich nicht bloß simpel von als singulär ausgemachten Übeltätern zu distanzieren – sondern sich zu einer kollektiven Verantwortung zu bekennen.

Es ist eine wirklich charmante Idee: Schickt die deutschen Fußballer heim – und achtzig Millionen Menschen werden womöglich nicht mehr wegschauen, sondern die gewalttätigen Reisenden in Sachen Fußball stigmatisieren. Nix mit „Fassungslosigkeit, Betroffenheit“, wie es gestern die DFB-Profis ausdrücken ließen, vor allem Schluß mit „Ohnmacht“. Nach Hause mit ihnen – und dann laßt uns sehen, ob sich das noch einmal einer traut.

Und unter uns gesagt: So schlimm wäre das vermutlich gar nicht – mit dem WM-Titel wird das hier eh nichts werden. Peter Unfried, Lens