Man hätte früher nach Berlin gehen sollen

■ Für Alfred Grosser, Pariser Politologe und Wegbereiter der deutsch-französischen Beziehungen, muß Berlin seine hauptstädtische und europäische Rolle noch finden. Chancen bieten die Zusammenarbeit

taz: „Berlin – Hauptstadt ohne Macht?“ ist der Titel der heute abend tagenden Hauptstadtgespräche. Sind Hauptstädte heute noch Machtzentren?

Alfred Grosser: Ja gewiß. Nur auf unterschiedliche Art und Weise. Paris ist zum Beispiel mehr Machtzentrum als Bonn oder Berlin, da es in Deutschland die Länder gibt. Dabei sollte nicht unterschätzt werden, daß der innere Machtverlust der deutschen Hauptstadt seit 1992 noch gefestigter ist. Heute sind auf europäischer Ebene die Länder gegenwärtig. Als heute die große Medienrichtlinie in Brüssel gemacht wurde, verhandelte der Vertreter der Bundesrepublik aber nur gemeinsam mit dem gewählten Vertreter der Länder. In dem Sinne ist die Länderwirtschaft heute stärker, als sie vor zwanzig Jahren war.

Erwarten Sie mit dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin eine andere Entwicklung?

Nein, das erwarte ich nicht. Ich glaube, es wird genausoviel Trennung von Parlament und Bürger geben. In Bonn war die Politik sehr abgelegen, und in Berlin ist der Bau des neuen Parlaments so, daß die Abgeordneten durch Übergänge, durch Untergänge, durch Zwischengänge die Möglichkeit haben, sich zu bewegen, ohne dem Bürger zu begegnen.

Was wäre die Alternative dazu?

Man hätte viel früher nach Berlin gehen sollen. Man hat gewartet, bis ein prunkvoller Stil der Regierungsgebäude realisiert wird. Es wäre besser gewesen, man hätte die Beamten von Anfang an aufgefordert, nach Berlin zu gehen – und meiner Ansicht nach hätte man das Recht dazu gehabt: Beamte haben dorthin zu gehen, wohin sie geschickt werden. Sie würden mitten in den Problemen der Wiedervereinigung stecken und sehen, wie das auch in Berlin außerordentlich schwierig geworden ist. Ich finde, es kommt wirklich spät. In diesem Sinn ist für mich die wesentliche Frage: Wird Berlin mehr als Bonn die Hauptstadt eines wirklich vereinten Deutschlands, das meiner Ansicht nach weniger eine Einheit bildet als vor zwei oder drei Jahren.

Welche Rolle wird Berlin zukünftig in Europa zwischen Paris und Warschau spielen?

Es wird mehr nach Osten gerichtet sein. Ich hoffe, die Heuchelei Polen und den anderen Staaten gegenüber wird abnehmen. Man sagt – mehr noch in Deutschland als in Frankreich: Wir haben offene Arme, kommt schnell hinzu. Und man tut alles, um neue Hürden aufzubauen. Zum Beispiel hat die Europäische Gemeinschaft mit deutscher Stimme vor wenigen Monaten Polen und Ungarn Umweltbestimmungen auferlegt, die respektiert werden müssen, bis sie dazukommen können. Und das zu einer Zeit, in der Brüssel Bonn ständig rügt, weil die europäischen Bestimmungen zum Umweltschutz von Bonn nicht respektiert werden.

Eine Diskussion hat die Gemüter in Berlin in den vergangenen Wochen bestimmt: Ist Berlin eine multikulturelle Metropole oder ist sie die Hauptstadt der Deutschen. Ist eine solche Debatte in Zeiten europäischen Einigung noch aktuell?

Sie ist aktuell, solange Manfred Kanther noch sagt, Deutschland wäre kein Einwanderungsland. Es hat sieben Millionen Ausländer. Ich weiß nicht, soll es 40 Millionen Ausländer geben, bevor das Einwanderungsland eingesehen wird. Von diesen sieben Millionen Ausländern – das Wort ausländische Mitbürger will mir nicht über die Lippen, weil ich mir unter Mitbürgern etwas ganz anderes vorstelle – wären in Frankreich zwei oder drei Millionen ja Franzosen. Es sind nur Ausländer, weil es die spezielle deutsche Regulation der Staatsangehörigkeit gibt. Unter den Türken wären in Frankreich unzählige Franzosen. Ich finde schlimm, daß in Frankreich wie in Deutschland das Ausländerthema ein gefundenes Wahlthema ist.

In Berlin gibt es besonders viele Ausländer. Das Wort multikulturell liebe ich nicht, denn für mich ist multikulturell weniger wichtig als das Bürgersein. In einem Land wie Frankreich ist man Franzose, wenn man Bürger ist, so wie ich ein französischer Bürger deutscher Abstammung bin.

Das Multikulturelle ist dann nur die Nebensache, und die Kultur muß weichen vor den Grundgesetzregeln des Zusammenseins. Zum Beispiel die sexuale Verstümmelung von Mädchen mag in dieser oder jener Kultur ansässig sein, sie ist ein Verbrechen nach unserem bürgerlichen Recht.

Heute abend soll es auch um die Frage gehen: Wünschen sich die Deutschen eine starke „Berliner Republik“? Was bedeutet für Sie dieser Begriff?

Ich protestiere sehr gegen diesen Ausdruck. Mein zweites Deutschlandbuch 1960 hieß „Die Bonner Demokratie“, nicht „Die Bonner Republik“. Wenn man das Neue „die Berliner Republik“ nennt, sieht diese so aus, als hätte sie andere Züge als die Bundesrepublik. Die Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes bedeutet, die Grundwerte der Bundesrepublik bleiben in Berlin natürlich auch erhalten. Und die Grundlage der Bundesrepublik war eine ethische Grundlage, die doppelte Ablehnung von Hitler in der Vergangenheit und von Stalin in der Nachbarschaft.

Worin sehen Sie mit der Perspektive aus Frankreich denn Potentiale von Berlin?

Berlin hat eine große Anziehungskraft behalten. Es sollte nicht vergessen werden, daß Berlin als Hauptstadt Preußens – eine Hauptstadt, die Anlaß für Befrüchtungen in anderen Ländern war – verschwunden ist. Und wenn man von Berlin spricht, taucht die goldene Weimarer Periode auf. Es wäre schön, wenn es in Berlin wieder eine goldene Periode geben könnte.

Die Haushalte der Berliner Theater und Opern gehen heute nicht in diese Richtung. Und dann müßte noch etwas hinzukommen, um die Berliner Kultur größer zu machen. Daß man in Deutschland endlich wieder einsieht – wie in den zwanziger Jahren –, daß der Film, das Kino zur Kultur gehört. Interview: Barbara Junge