Paris, wachgeküßt

■ Das Metropolis-Kino zeigt zwei interessante Werke aus den Anfängen des Essayfilms

Sommer 1945: Die Luft ist sauber in Paris – fast wie auf dem Land. Das Stadtbild geprägt von Droschken, die anstelle stinkender Autos um den Arc de Triomphe kreisen. Die Zeit kurz nach der Befreiung von den Nazis ist die der Entbehrungen. Man fährt Metro, weil sich niemand ein Auto leisten kann. Aber die Not wird zur Tugend – schließlich sind die überfüllten Bahnen eine gute Übung in demokratischem Verhalten. Genauso das Schlangestehen um die Brotmarken. Man arrangiert sich. Einfallsreiche Bürgerinnen haben nicht nur einen kleinen Klappstuhl, sondern auch Strickzeug dabei.

Die Mode ist wieder elegant, die Hüte wegen Materialmangel zwar klein, aber trés chic! Kurz fällt der Blick auf Jean-Paul Sartre, der sich über einem Drink vor dem Intellektuellen-Café Flore mit Simone de Beauvoir austauscht. Gide, Camus, Queneau und Breton flanieren entlang dem Boulevard St. Germain. Die parisiens zeigen sich und fühlen sich wohl.

Fast ein wenig zu stolz und unkritisch erscheint das Bild der Metropole in Roger Leenhardts Kurzfilm Lettre de Paris. Ein filmischer Brief aus Paris von 1945, der sich wohl vor allem an die Verbündeten richtet, um zu demonstrieren, daß die Metropole nach den langen Jahren deutscher Vormundschaft wieder eine wichtige Rolle spielt. Das philosophische und literarische Leben beginnt wahrlich erst jetzt.

Im Rahmen der Reihe „Abenteuer Essayfilm“ zeigt das Metropolis neben der englischen Version des Lettre de Paris außerdem die US-Film Strange Victory, der Leo Hurwitz 1948 drehte. Zwei Arbeiten, die die Anfänge des Essayfilms dokumentieren – von zwei Autoren, die sehr früh mit traditionellen Sehgewohnheiten brechen.

In einer frühen Ausgabe der Cahiers du Cinéma wird der Kritiker, Theoretiker und Regisseur Leenhardt als der geistige Vater der Nouvelle Vague beschrieben. Mit Lettre de Paris beginnt er eine Entwicklung, die sich vom klassischen Kulturfilm abwendet. Er konzipiert seinen Dokumentarfilm nicht mehr chronologisch und quasi-objektiv, sondern bewußt subjektiv. Wie schon die Wahl der Briefform signalisiert. Ein ebenso früher Essayfilm ist Hurwitz' Strange Victory, in dem der Autor die innere Situation der USA nach dem Sieg über den Hitler-Faschismus widerspiegelt. Ein seltsamer Sieg, wenn zur selben Zeit im eigenen Land die Diskriminierung von Farbigen als auch Juden unverändert präsent ist. Provokant stellt der 1909 in New York geborene Sohn russischer Emigranten die Glaubwürdigkeit der USA in Frage – und verspielt sich somit eine Fernsehausstrahlung seines Films.

Isabel Gentsch

Dienstag, 30. Juni, 21.15 Uhr, Metropolis. Einführung: Thomas Tode