„Ich bin der Verräter der Avantgarde“

■ Ein Porträt. Eigentlich möchte György Ligeti erst in 200 Jahren auf den Sockel gehoben werden, zum 75. Geburtstag wird der Komponist trotzdem reichlich geehrt

György Ligeti ist stets auf der Suche. Nach Tönen, Klängen, Geräuschen. Nach einer neuen Musiksprache: „Etwas zu machen, was schon da war, ist für mich uninteressant.“ Oft befand er sich dabei im Widerspruch zu sogenannten herrschenden Richtungen. Als in den 50ern die serielle Musik propagiert wurde, wandte sich Ligeti ab. Er berief sich darauf, mit seinen Werken „Farben, Konsistenz und sichtbare wie tastbare Form“ zu erzeugen. Die Anregungen stammen oft aus außermusikalischen Bereichen. Ein Kindheitstraum von einem „dünnfaserigen, aber äußerst dichten und verwickelten Gewebe“, das sein Kinderzimmer ausfüllte, versuchte er kompositorisch umzusetzen. Bezeichnenderweise verwendet Ligeti auch Wörter wie Netz oder Geflecht, um seine Kompositionen zu erläutern. Ein Gewebe sollen die Töne bilden, so daß die einzelnen Stimmen nicht mehr zu verfolgen sind.

Diese Komplexität ist für den 75jährigen Wahl-Hamburger Prinzip. „Ich bin ein neugieriger Mensch und interessiere mich für alles, Naturwissenschaften, Linguistik, Geschichte, Politik.“ Wichtig ist ihm dabei immer, Strukturen zu finden wie in der Biochemie oder der Fraktalen Geometrie. Schon in seiner Jugend wollte er Mathematik studieren, doch das blieb jüdischen Bürgern in seiner siebenbürgischen Heimat verwehrt. So studierte er in Cluj, dem damaligen Klausenburg, Harmonielehre und später in Budapest Komposition.

Nach der Niederschlagung des Budapester Aufstands 1956 beschloß er, aus Ungarn zu fliehen. Über Wien reiste er nach Köln, wo er Kontakt zu den Großen in der Neuen Musik fand. Die Bekanntschaften mit Karlheinz Stockhausen, aber auch Pierre Boulez wurden zur Initialzündung: „Das war für mich ein produktiver Schock.“ Schon seine ersten Uraufführungen im Westen – Apparitions und Atmosphères – waren überaus erfolgreich. Ligeti rückte in die erste Reihe der zeitgenössischen Komponisten auf, eben weil sich seine Stücke keiner der damals herrschenden avantgardistischen Richtungen zuordnen ließ. Im Gegenteil. Heute behauptet Ligeti ein wenig selbstironisch: „Ich bin der Verräter der Avantgarde!“ Doch all die Preise und Ehrungen – um die 50 erhielt er bislang – interessieren ihn kaum. Auch von den Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag wollte er nichts wissen: „Laßt mich sterben und wartet noch 200 Jahre, bevor ihr mich auf den Sockel hebt.“

Wichtiger ist ihm, in Ruhe zu arbeiten. Von 1973 bis 1989 war er Ordentlicher Professor an der Hochschule für Musik in Hamburg. Doch seit seiner Emeritierung ist er froh, daß er sich ganz dem Komponieren widmen kann. Dabei macht er aus seiner Meinung keinen Hehl, daß die temperierte Stimmung des Pianos für ihn in eine Sackgasse führt: „Ein Dur-Akkord auf dem Klavier ist mir unerträglich.“ Statt dessen beschäftigt er sich mit Obertonreihen sowie der Harmonik von Volksmusiken – und betont, daß er World Music für Kommerz hält: „Das ist ein um des Verkaufes Willen konstruiertes Gemisch.“

Bei seiner Suche ist Ligeti jedes Mittel recht: „In der Kunst gibt es nur die Möglichkeit, ehrlich das zu machen, was einem vorschwebt“, begründet er seine Abwendung von allen gängigen Strömungen. „Evolution ist ein Begriff aus der Biologie, nicht aus der Kunst.“

Eberhard Spohd

bis Sonntag findet in der Musikhalle und dem Studio 10 des NDR das Ligeti-Festival statt. Nähere Informationen in der Musikhalle