■ Nachschlag
: Herzlose Literatur: Vladimir Sorokin und Durs Grünbein im Roten Salon

Während die Normalen Fußball guckten, saßen Durs Grünbein und Vladimir Sorokin Dienstag abend auf der Bühne des Nachtcafés im Roten Salon der Volksbühne und lasen aus ihren Texten vor. Der Raum war überfüllt. Der Berliner Kleistpreisträger, der seinen russischen Dichterkollegen 1992 in Dresden kennengelernt hatte — dort hatten sie an der Elbe gesessen und sich über Sachen unterhalten — wirkte angenehm entspannt und nüchtern-sympathisch. Sorokin, 43, („Die Schlange“, „Roman“), sozusagen Repräsentant einer „anderen russischen Literatur“, die sich von den wahren guten Menschen der Dissidentenliteratur nicht weniger abgestoßen fühlte als vom Humanismus der offiziellen Literatur, wird gern als Konzeptualist etikettiert, was er ablehnt. Das „führende Monster der neuen russischen Literatur“ (Jerofejew) hat einen angegrauten, doch auch jugendlichen Wuschelkopf. Wenn er las — ob russisch oder deutsch — fühlt man sich als Zuhörer angenehm, was an der russischen Sprachmelodie liegt. In seinem Buch „Ein Monat in Dachau“ haben Hitler und Stalin vereint den Krieg gewonnen. Der Held reist im Urlaub nach Braunau, denn „alle Wege von Rußland nach Deutschland führen über Braunau“. Von Speer wurde die Gegend um Braunau nach Hitlers Gesicht geformt. Die Stadt ist sein Schnurrbart. Grünbein konterte mit einer „transpolonischen Suite“, in der es um eine Reise in den wilden Osten geht: „Jedes Wort klingt wie Nietzsche / war es hier, wo das Chaos beginnt?“ Auf deutsch liest Sorokin was über Gangsterbräute. Die Zuhörer freuen sich lachend, weil „Gangsterbraut“ so schön klingt. Dann plaudern die beiden über russische und deutsche Mentalitäten, über russische Deutschlandbilder und deutsche Rußlandbilder. Sorokin fehlt der „Schmutz“ in Deutschland; Grünbein versucht das Chaos zu analysieren. Grünbein spricht über die Minderwertigkeitskomplexe der verspäteten Nation oder der verspäteten Moderne und den Einfluß der Geographie auf nationale Mentalitäten. Ein Zuhörer monierte den Monumentalismus der Autoren. Warum sei man so gewaltversessen und widme sich nicht den kleinen, alltäglichen Themen, wie Viktor Schklowskij in seinem romantischen 20er-Jahre-Klassiker „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe“? Die Antwort des erklärten Freudgegners Sorokins klang ein bißchen nach Freud: Mit seinen Monumenten der Gewalt reagiere der Künstler — ob Müller oder Tarantino — auf die reale Gealt des gewalttätigsten Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert hätte man sich auf das Verlassen des Körpers vorbereitet; im 21. werde man ihn verlassen, glaubt Sorokin, der den Begriff „mit dem Herzen schreiben“ ganz furchbar findet: „Da stelle ich mir immer vor, daß man sein Herz aus der Brust reißt und damit schreibt.“ Detlef Kuhlbrodt