■ Die Debatte um das „Schwarzbuch“ zeigt: Manche deutsche Linke wollen von den kommunistischen Verbrechen noch immer nichts wissen
: Don't touch my Holocaust

1938 schrieb Ernst Bloch im Prager Exil eine Rechtfertigung der Moskauer Schauprozesse, in denen Stalin die letzten verbliebenen möglichen Machtkonkurrenten ermorden ließ. Der Tod sei die richtige Strafe für die Angeklagten, die schon früher durch „Mitleid mit den Kulaken und dergleichen mehr“ vom richtigen, stalinschen Kurs abgewichen seien. Ihr wahres Verbrechen aber sei es gewesen, „mit dem faschistischen Teufel“ gegen Stalin zu paktieren.

Blochs Text verrät so etwas wie ein „notwendig falsches Bewußtsein“. Es galt, alles gegen die Nazis, die Bloch aus seiner Heimat vertrieben hatten, zu mobilisieren. Weil die Erkenntnis der stalinschen Verbrechen diesen Kampf kompliziert hätte, schaute Bloch weg. Er sah sich vor eine betäubende Wahl gestellt: für Hitler oder für Stalin. Sein Text dokumentiert den dramatischen Urkonflikt der deutschen Linken. Sich mit dem kommunistischen Terror zu beschäftigen – hieß das nicht, den Blick von Hitler abzuwenden?

Heute müssen wir klüger sein als Bloch es war oder sein konnte. Doch die Debatte um das „Schwarzbuch“ zeigt, daß sich manche noch immer in den geistigen Koordinaten bewegen, auf denen Blochs Irrtum fußte. Gußeisern gilt es, die „Singularität des Holocaust“ gegen den Versuch zu verteidigen, über den Zusammenhang von Kommunismus und Terror zu reden. So setzt der Historiker Wolfgang Wippermann in Jungle World die kommunistischen Verbrechen in Anführungsstriche – als wäre deren Existenz keine unstrittige Tatsache, sondern ein agitatorischer Begriff, den man dem Feind entwenden muß.

Kein Mißverständnis: Das „Schwarzbuch“ ist einseitig und theoretisch dürftig, das Vorwort von Stephane Courtois gekennzeichnet von dem Furor des Renegaten, der seinen maoistischen Irrtum durch eine Kehrtwende verarbeitet, die gleichsam zu dem sektiererischen Ton seiner Vergangenheit zurückführt. Die Fixierung auf die kommunistischen Verbrechen führt im „Schwarzbuch“ zu der bedauerlichen Ausblendung sozialgeschichtlicher Ursachen. Wenn Courtois Pol Pot und Castro in einem Atemzug nennt, fragt sich, ob der Begriff „kommunistische Regime“ überhaupt eine brauchbare Kategorie ist – das „Schwarzbuch“ geht auf diese zentrale methodische Frage vorsichtshalber erst gar nicht ein.

Diese Kritik an dem „Schwarzbuch“ ist berechtigt – freilich klingt sie manchmal so, als wolle man sich damit auch gleich die ganze Debatte vom Hals schaffen. Im Kern dieser Diskussion stehen zwei Fragen: die nach dem Verhältnis von nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen und jene, ob die westdeutsche 68er Linke die kommunistischen Untaten ignoriert hat.

Wippermann & Co. führen die Naziverbrechen in dieser Debatte wie Kampfbegriffe ins Feld. Gebetsmühlenhaft hört man von dort, daß der Holocaust die Katastrophe des Jahrhunderts war, an der gemessen alle anderen Verbrechen zu zweitrangigen Phänomenen schrumpfen. „Wir sollten“, schreibt Wippermann, „an der Holocaustfixierung festhalten.“ Diese Argumentation hat einen religiös anmutenden Unterton: Du sollst kein Jahrhundertverbrechen neben mir haben. So rückt die Vernichtung der Juden in die Nähe einer negativen Sinnstiftung.

Weil Wippermann sich eine politische Identität, die den Holocaust nicht ins Zentrum rückt, offenbar nicht vorstellen kann, dichtet er Courtois sogar Antisemitismus an: Er unterstelle, daß die Juden den Holocaust instrumentalisieren. Das ist falsch. Courtois hat lediglich festgestellt, daß es den Opfern kommunistischer Verbrechen „lange Zeit verboten war, das Gedächtnis des tragischen Geschehens in der Öffentlichkeit zu pflegen“, während „die internationale jüdische Gemeinschaft die Erinnerung an den Völkermord wachhalte“. Dies ist nichts anderes als eine Beschreibung des Zustandes, den Wippermann nicht wahrhaben will: Don't touch my Holocaust.

Das Motiv für diese Art Vergangenheitspolitik mag sein, die Erinnerung an die NS-Verbrechen wachzuhalten; doch die doktrinäre Verhärtung schadet gerade diesem Anliegen. Wer die Notwendigkeit, sich in Deutschland an die NS-Verbrechen zu erinnern, an die Formel der „Singularität von Auschwitz“ kettet, baut auf Sand. Denn bei allen fundamentalen Unterschieden im Modernitätsniveau und den Zielen – moralisch existiert kein Unterschied zwischen den stalinistischen und nationalsozialistischen Ausrottungsverbrechen.

Wer den Holocaust zum absoluten, unvergleichbaren Bösen erklärt, findet sich zudem an der Seite von Botho Strauß wieder. Strauß verstand in „Anschwellender Bocksgesang“ die NS-Verbrechen als ein „Verhängnis in einer sakralen Dimension des Wortes“. Wer an einem politischen, rationalen Verständnis des Nationalsozialismus festhält, darf dessen Verbrechen nicht ins Sakrale, Unfaßbare, Unvergleichbare entrücken.

Und was ist mit dem Vorwurf, die westdeutsche Linke habe die kommunistischen Verbrechen ignoriert? Die Linke, jenseits von DKP und K-Gruppen, hat den autoritären Realsozialismus nie verteidigt. Aber andererseits sind auch kaum wesentliche politische oder publizistische Beiträge erinnerlich, die gezeigt hätten, daß die Beschäftigung mit den Verbrechen des Kommunismus eine linke Herzensangelegenheit war. Für die westdeutschen Linken war das Thema eher störend.

Denn der Antikommunismus war die Sache der Rechten vom Schlage Gerhard Löwenthals, mit denen aufrechte Linke nichts zu schaffen haben wollten. Die linke Unlust, sich in Deutschland, durch das die Grenze des Kalten Krieges verlief, mit dem Realsozialismus zu beschäftigen, entsprang einer eingewohnten Distanz zu einem Thema, für das man keine Lösung hatte. Dieser politischen Mechanik ist die Linke selten entkommen. Mit eigenen totalitären Neigungen hatte das nichts zu tun.

Aber auch das ist seit 1989 Geschichte. Es gibt keine Nachrüstungsfetischisten mehr, deren Propaganda eine linke Kritik des Kommunismus womöglich nützen würde. Es gibt, anders gesagt, keine Rationalisierung mehr für den linken Unwillen, sich mit dem kommunistischen Terror zu beschäftigen.

Doch auch heute noch kommt die Debatte erst in Fahrt, wenn der Vergleich mit Hitler ins Spiel kommt. Darin zeigt sich die Schwierigkeit, ein linkes Selbstverständnis zu entwickeln, das sich aus den Identitätsmustern der Vergangenheit löst. Ein engherziger, kanonisierter Antifaschismus ist die falsche, regressive Antwort auf diese Frage. Stefan Reinecke