Kaiserstadt grüßt Clinton

US-Präsident in China von Neugierde und Hochmut empfangen  ■ Aus Xian Georg Blume

Bill und Hillary haben längst ihre Hotelsuite in der alten Kaiserstadt Xian erreicht, da tummeln sich auf der Straße unter ihrem Fenster immer noch Tausende, um den US-Präsidenten und seine Frau willkommen zu heißen. Es herrscht weder Volksfeststimmung noch das übliche Gedränge chinesischer Massenkundgebungen. Auch scheint es mehr als pure Neugier zu sein, was die Bürger der Fünf-Millionen-Metropole zu so später Stunde auf die Straße treibt. „Würde unser Präsident Jiang Zemin in Deutschland auch von so vielen Menschen empfangen werden?“ fragt ein junger Mann. Noch viele suchen das Gespräch mit dem ausländischen Reporter, als würden sie ahnen, daß ihr so zahlreiches Volk, wo es in der Masse auftritt, erst noch lernen muß, sich auf der Weltbühne zu bewegen, ohne anderen Angst einzujagen.

Bill Clinton will diesen Lernprozeß fördern. Er setzt auf das „neue China“, das er in seiner ersten Ansprache vor den alten Stadtmauern Xians beschwört – dort, wo in den Jahrhunderten der seinerzeit den Fortschritt diktierenden Tang-Dynastie die Delegationen fremder Länder durch das Südtor zogen, um dem damals mächtigsten Kaiser der Welt zu huldigen. Die Zeiten haben sich geändert, das Selbstbewußtsein mancher Chinesen nicht: „Es ist nicht nur eine Ehre für uns, den amerikanischen Präsidenten zu empfangen, es ist auch eine Ehre für ihn, in Xian zu sein“, schallt es aus dem Publikum, das keinesfalls zum Jubeln gekommen ist.

Kaum jemand unter den Zaungästen will Clinton zugestehen, daß er und nicht ein chinesischer Parteiführer heute der mächtigste Mann der Welt ist. Immer wieder ist es dieses Schwanken zwischen Hochmut und Offenheit, Arroganz und Lernbereitschaft, das – ob auf den Straßen Xians oder in den Parteipalästen Pekings – die westliche China-Politik so schwer macht. Einem ganz anderen China aber begegnet Clinton am Morgen nach seiner Ankunft in dem Bauerndorf Xia He unweit von Xian.

Vor einer kleinen Hütte hat sich der US-Präsident neben sechs Dorfbewohnern im Schatten einer Akazie niedergelassen. Sie reden über den Alltag eines Fünftels der Menschheit, über die Feldarbeit, die nicht ausreicht, die Familie zu ernähren, über den Zwang zum Nebenverdienst, der auch den Bauern ihre Rolle im kapitalistischen China zuweist. So wie in Xia He, wo die Dorfbewohner handbestickte Souvenirs an Touristen verkaufen, die die nahe gelegene Ausgrabungsstätte der weltberühmten Terrakotta-Armee besuchen.

Clinton braucht hier nur zuzuhören. Obwohl er ein Modelldorf besucht, das wohlhabender ist als die meisten in China, erfährt er, was die Zukunft seines Gastlandes so ungewiß macht: 800 Millionen Chinesen leben weiter in relativer Armut auf dem Land. Wohin mit ihnen im „neuen China“, im von Clinton hier gepredigten „globalen Informationszeitalter, in dem die Möglichkeiten jedes einzelnen auf der Freiheit der Ideen basiert“?

Die Leute von Xia He bleiben skeptisch: Was hat Amerika mit ihnen zu tun? „So reich wie die Amerikaner werden wir nie. Dafür gibt es zu viele Chinesen“, wehrt sich ein Bauer gegen die Verlockungen des amerikanischen Traums. Doch sein Nachbar sieht eine Gelegenheit: „Heute wählen wir im Dorf unseren Bürgermeister. Ich habe nichts dagegen, eines Tages auch den Präsidenten in Peking zu wählen.“ Als habe er den Wink verstanden, erzählt Clinton anschließend den Kindern der Dorfschule von demokratischen Wahlen in Amerika: „Wo immer gewählt wird, haben die Menschen gewonnen“, so der Präsident. Vielleicht werden ihn die Kinder verstehen, wenn sie erwachsen sind.