Heute können Worte nicht mehr helfen

■ „Ich schreibe für meine Gesundheit“: Auszüge aus einem Vortrag, den der tschechische Autor und Journalist Ludvik Vaculik am 5. Juni in der Geschichtswerkstatt Jena gehalten hat

Wie viele Worte wären heute nötig, alles Übel zu erfassen und zu vernichten: Betrügereien, Kriminalität, Korruption...

Man stellt mir oft eine Frage, die mitunter beinahe wie ein Vorwurf klingt; warum ich nicht endlich neue Zweitausend Worte verfasse, die genau das Übel bezeichnen und sagen, was man dagegen tun soll. Darauf antworte ich, daß keine Worte helfen können. Das Übel, das wir an einer Stelle wahrnehmen konnten, hat sich demokratisch über das ganze Volk verbreitet. Worte haben ihr Gewicht verloren, weil sie allzu frei sind. In Unfreiheit ist jedes freie Wort eine Tat. In Freiheit entscheiden jedoch nur mehr Taten.

Da ich von der Zensur rede, gestatten Sie mir, eine Begebenheit zu erzählen. Im Jahr 1960 arbeitete ich im tschechoslowakischen Rundfunk, in der Sendung für die Jugend. Manche Programme erfreuten sich großen Interesses: sowohl bei der Jugend als auch bei den Männern der sogenannten Hauptverwaltung der Presseüberwachung. Mit denen rangen wir manchmal um jeden Satz, gaben mitunter in Worten nach, um das Programm zu retten. In jener Zeit entsandte mich die Redaktion zu einem Austausch in die brüderliche Redaktion des deutschen Rundfunks, nach Berlin, in jenes demokratische. Am Ende meines Besuches fragte ich bei einer Beratung nach einer Sache, die in meinem Kopf rumorte: In welcher Phase der Arbeit unterbreiten Sie es irgendeiner Überprüfung? Alle begannen zu lachen: Bei ihnen gibt es keine Zensur! Das erzählte ich dann in Prag, und eine Deutsche, die in der deutschen Sektion unserer Auslandssendungen arbeitete, sagte mir: „Ludvik, du bist aber naiv! Weißt du, warum sie keine Zensur brauchen? Weil jeder von ihnen ein Zensor ist.“

Was schreibe ich also heutzutage? Jeden Dienstag habe ich eine Spalte in den Lidové noviny unter dem Titel „Das letzte Wort“. Dort schreibe ich über alles, was mich ärgert, wovor ich Angst habe. Eine Wirkung meiner Worte erwarte ich nicht. Vergeblich habe ich wiederholt geschrieben, verurteilten Verbrechern sollte man das Wahlrecht entziehen und sie damit aus der Demokratie ausschließen. An Demokratie glaube ich nicht allzu sehr, aber darüber schreibe ich vorsichtig. Ich habe geschrieben, daß ich die Europäische Union vorläufig mit Mißtrauen betrachte und daß die Euro-Banknoten ästhetisch leer, kosmopolitisch ideenarm sind. Daß die Wahlprogramme unserer Parteien nicht auf die Zukunft ausgerichtet sind, sondern nur auf die Erweiterung des heutigen Zustandes. Die Produktion, der Transport und Konsum müssen gesenkt werden. Für die meisten meiner Letzten Worte erhalte ich fast nur zustimmende Briefe, und das wirft in mir die Frage auf, ob es einen Sinn hat, etwas zu schreiben, womit alle übereinstimmen. Warum schreibst du also, werde ich gefragt. Für meine Gesundheit, sage ich. Und weil sich vielleicht aus dieser unbegrenzten Freiheit unserer wirkungslosen Worte irgendwie eine festere, kritische Ansicht des Großteils der Gesellschaft ergeben könnte.

Vor einer gewissen Zeit haben bestimmt auch Sie gelesen, daß sich der Erde irgendein Asteroid nähert und mit uns zusammenstoßen könnte. Ich habe geschrieben, daß das vom kosmischen Gesichtspunkt aus keine Katastrophe wäre und daß es die Menschheit nicht verdient, auf der Erde zu leben. Und wiederum habe ich durchwegs nur zustimmende Briefe erhalten!

Damit hängt eine Anekdote zusammen: Gott hat beschlossen, die Menschheit mit einer Sintflut zu vernichten. Er hielt es jedoch für anständig, dies den Menschen anzuzeigen, damit sie wenigstens beten konnten. Er lud einen Vertreter des reichsten Landes ein, also aus Amerika, des völkerreichsten, das heißt aus China, und dann den Vertreter irgendeines durchschnittlichen Landes, und das waren wir. Havel wurde gerade operiert, deshalb kam Klaus. Die drei Repräsentanten der Menschheit hörten die Information an und kehrten nach Hause zurück. Meine Damen und Herren, sagte der amerikanische Präsident im Kongreß, ich habe für Sie eine gute Nachricht und eine schlechte. Die gute ist, daß im Einklang damit, wofür wir einstehen, Gott existiert, und die schlechte, daß er eine Sintflut über die Menschheit schickt. Der chinesische Vorsitzende sagte zur selben Zeit: Genossinnen und Genossen, ich habe für euch zwei schlechte Nachrichten: Im Gegensatz zu dem, was wir verkündet haben, existiert Gott und hat beschlossen, uns zu vernichten. Klaus sagte: Meine Damen und meine Herren, ich habe für Sie zwei gute Nachrichten: Die eine ist, daß ich als einer der drei Sprecher mit Gott ausgewählt wurde, und die zweite, daß die Sozialdemokraten nicht an die Macht kommen werden!