RAF-Mann Dellwo: Schluß mit den linken Legenden!

■ Das ehemalige RAF-Mitglied im taz-Gespräch über die Mordtheorie von Stammheim: „Wir haben der Entstehung des Mythos zugeschaut und teilweise nachgeholfen“

Berlin (taz) – Für die RAF war es ein Tabu, für viele Linke jahrelang die Glaubensfrage: Wurden im Deutschen Herbst 1977 Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim ermordet, oder nahmen sie sich nach der gescheiterten Schleyer-Entführung und dem Kidnapping des Urlauberflugzeugs „Landshut“ selbst das Leben?

Karl-Heinz Dellwo, der 1975 mit dem Kommando Holger Meins die deutsche Botschaft in Stockholm besetzte und zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt wurde, erklärt jetzt in einem Gespräch mit der taz, daß es auch in der RAF früher schon Zweifel an der Mordlegende gab, diese Behauptung aber innerhalb der RAF weder intern noch öffentlich diskutiert, geschweige denn revidiert wurde. „Wir waren mit der Mordbehauptung in einer Sackgasse und zu der Umwälzung, die stattfinden muß, nicht mehr in der Lage. So haben wir der Entstehung des Mythos zugeschaut und teilweise nachgeholfen.“ Und: „Wir hatten so viele Anstrengungen gemacht, und so viele unserer Freunde waren tot, das sollte so nicht enden. Wir haben uns unsere Niederlage handhabbar gemacht, und dazu gehört auch unsere Darstellung zu Stammheim.“

Für Dellwo, der 1995 nach zwanzig Jahren Haft entlassen wurde, ist 1977 das Jahr der Niederlage. „Wir hatten mit allen Angriffen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses einen Ausnahmezustand erzeugt und waren nicht in der Lage, darin unsere eigenen Kriterien aufrechtzuhalten. Wir haben sie nicht nur aufgegeben, wir haben gegen sie gehandelt und sie damit erst recht entwertet. Das war eine moralische und eine politische Diskreditierung.“

Dellwo kritisiert auch den „Hang zur autoritären Strukturierung“, der sich Anfang der achtziger Jahre in der RAF durchsetzte. „Die Gruppe als eigener, starker Erfahrungszusammenhang ist nicht mehr gesucht worden. Das Ganze wurde zum Zusammenhang für Politikmachen nach außen. Damit aber waren wir kein Widerspruch mehr zum allgemeinen Politbetrieb in der Gesellschaft, außer daß wir bewaffnet waren.“ Interne Widersprüche seien jahrelang aufgetürmt worden, doch Diskussionen habe es keine mehr gegeben. Nach 1990 sei der Ton der Gefangenen untereinander, aber auch gegenüber den Illegalen ätzend geworden: „Die wichtige Ebene der Freundlichkeit zwischen uns war inzwischen verlorengegangen.“ pe

taz mag Seiten I bis V